
Tal irgendwo im Nordwesten von Korfu. Über dem sonnigen Setting wabert eine unsichtbare Wolke von Esoterik, Selbstachtsamkeit und Humbug. Am oberen Bildrand befindet sich ein ehemaliger Ashram der Bagwahnsekte, heute Hotel für die älter gewordene Klientel. In der Bildmitte ein Festivalgelände für die Hippies der ganzen Welt. Zumindest den Teil, der sich bis zu 5.555 Euro für ein paar Tage, Zitat aus der Homepage „ … tägliche Feiern, Opfergaben, Meeresrituale, Bewegung, Atem, Tanz, heilige Nahrung, Heilungssitzungen, Konzerte, Vorträge, Workshops, Zeremonien und vieles mehr…“ leisten kann. Hier tummelt sich also mein Archetyp Nr. 2: Der Hippie. Ich orientiere mich bei dem Begriff „Archetyp“ an C. G. Jung, auch wenn ich dessen unwissenschaftliche und antiaufklärerische, in Teilen antisemitische Ideologie in keiner Weise teile. Mir geht es darum, zu gucken, in welche Gruppen gliedert sich unsere heutige Gesellschaft jenseits des Klassenbegriffs. Der natürlich nach wie vor die Grundlage aller Analysen sein muss, aber für eine notwendige Feinjustierung nicht ausreicht.
Der Klassenbegriff orientiert sich am Antagonismus Kapital vs. Arbeit. Es gibt die, die Produktionsmittel, Kapital und Macht besitzen und vom Profit leben, und es gibt die, die ihre Arbeitskraft zu Markte tragen müssen, um zu überleben. Die Unterteilung in Klassen, auch die in Untergruppen der Klassen, orientiert sich an Vermögen, Bildung, Beruf, Einkommen – ökonomische Kategorien eben.
Wenn man eine Ebene tiefer in der Oberschicht strukturiert, gibt es Superreiche mit einem Vermögen von mehr als 100 Mio. Dollar, normale Reiche wären dann die, die von den Einkünften ihres Vermögens gut leben können, also das Fußvolk der einfachen Millionäre.
In der Mittelschicht gibt es Wohlhabende, mit hohem Einkommen, ordentlichem Vermögen (wir reden hier über mehrere Hunderttausend Euro), oft geerbt, mit akademischer Ausbildung, Führungsverantwortung, das ist die obere Mittelschicht.
Die Unterschicht besteht aus dem Prekariat der Geringverdienenden, Minijobberinnen, Scheinselbstständigen (Kurierfahrer etc.) mit Hungerexistenzen. Da, wo die wachsende untere Mittelschicht der kleinen Routinearbeit-Angestellten und niederen Facharbeiter*innen ständig vom Absturz bedroht ist, hat das Prekariat, die Unterschicht, keine Aussicht auf Aufstieg, Verbesserung der elenden Situation. Innerhalb der Unterschicht kann man natürlich auch weiter differenzieren, schlimmer geht immer. Es gibt Menschen in der unteren Unterschicht, in extremer Armut, Obdachlose, Menschen im Knast, in Psychiatrien, in Abschiebelagern, Illegale etc. pp. Darüber hinaus gibt es auch sowas wie eine hedonistische Unterschicht, Menschen mit wenig Einkommen, ungesicherter Existenz etc., ökonomisch abgehängt, aber psychosozial oft integriert und nicht nach Aufstieg gierend, z. B. Schriftsteller, freie Kulturarbeiter*innen, Lebenskünstler, Blogschreiber etc. pp.
Über diese Ausdifferenzierung der Klassengesellschaft und welche Konsequenzen in unserer Gesellschaft das hat, hier ein Überblick von Klaus Dörre , einer der wenigen Soziologen hierzulande, die noch bei Verstand und Begriff sind.
Die bisher geschilderten Aspekte schildern eine sozioökomische Perspektive, also Einkommen, Vermögen, Beruf, Bildung, Status etc. Genauso wichtig für das Verständnis dafür, was in unserer Gesellschaft aktuell so verkehrt antizivilisatorisch läuft, ist aber eine Analyse und Kategorisierung jener Mentalitäten, psychischen Strukturen, Ideologien, kollektiven Verhaltensnormen, die eben nicht zwangsläufig synchron zur Klassenidentität, zur Schichtzugehörigkeit, zur Ökonomie verlaufen. Archetypen wie „Schrebergärtner“ oder „Hippie“ können durchaus Millionär, Studienrat, Prekariatsangehöriger sein, was sie eint, ist nicht zwangsläufig ihr ökonomischer Status, ihre Klassenzugehörigkeit, sondern ihr mitunter antidemokratisches Potential, strukturelle Deformationen wie Autoritätshörigkeit, gesellschaftliches Desinteresse, Empathielosigkeit, Unbildung, Egoismus.
Esoterik mit Hang zu Irrsinn & Schwurbelei, Kenntnislosigkeit, nackter Egoismus, Unbildung, Desinteresse, Kulturimperialismus, all das traf ich im wunderschönen Tal oben. Beim Hippie, der sich, in der Mehrzahl in der weiblichen Form, gleich mir dort am FKK-Strand tummelte. Im nahegelegenen ex-Ashram kann der Hippie nicht nur in die wunderbare Welt der Bachblüten, einer der Kronen des postmodernen Humbugs, eintauchen. Darüber hinaus geht es um, Zitate: „ … Alchemie der 4 Elemente – Entdecke deine eigene Magie. (Nein, nicht Maggie. D. A.) Meridianstreching (im Original so falsch geschrieben). Heartsinging. Wiedergeburt in die Liebe – Tanze deinen Weg zur Verbundenheit und Freude .. „
Und danach tanze ich meine Postleitzahl ….. Gelehrt von u. a. Naveen, Shivananda, Vadan. Im Normalleben vermutlich Karl Dall, Grete Tofu und Hans Wurst.
Kein Wunder, dass dort am Strand sich dutzende von Hippies aufgetürmte, vermeintlich niedliche Steintürmchen stapelten, eine Seuche, die sich immer mehr ausbreitet. Das ist an Dämlichkeit nicht zu überbieten. Steine erfüllen am Strand eine zentrale ökologische und geologische Funktion. Steine bilden am Strand Lebensraum und Schutz für Insekten, Krebse, Amphibien, sensible Pflanzen. Dieser Raum wird durch Verschieben der Steine zerstört. Außerdem stabilisieren die Steine den Strand, der zunehmend von Überschwemmung und Abspülung bedroht ist. Nicht umsonst steht die Ausfuhr von Steinen unter Strafe. Steht fett am Flughafen. Das alles ist dem Hippie in seinem egoistischen Selbstverwirklichungswahn Wurst.
Ganz schlimme neueste Unsitte: Flächendeckend werden unschuldige Steine bemalt, mit albernen Liebesbotschaften oder bunter Farbe. Ich dachte, mir bluten die Augen, als ich dieses ästhetische Schwerverbrechen das erste Mal gesehen habe. Was für eine dummdreiste Rücksichtslosigkeit gegen die Natur. Und vor allem gegen mich!
Krönung dieses Irrsinns: Das helle Kliff am Strand, in der Bildmitte, besteht auch aus Lehm. Mit dem beschmierten sich unsere hüllenlosen Intelligenzbestien nach Art des Hauses Woodstock ganzkörperlich, indem sie ihn aus dem Kliff rausbrachen. Das einzig Positive an dieser Orgie aus Schlamm und Schwachsinn war für mich die Vorstellung, wie tausende Festivalbesucherinnen nächstes Jahr das Gleiche praktizieren, tonnenweise, die Lehmmassen ein Einsehen haben, abbrechen, das ganze Elend unter sich begraben und das Festivalgelände mit ins Meer spülen. Ärgerlich nur, dass ich dann in der Nachsaison mir einen neuen Strand suchen muss.
Keine Randnotiz: Das komplette Festivalgelände ist blickdicht nach außen abgesperrt, überall Kameras, Zugang über elektronische Tastatur-Schlößer. An einem wie auch immer gearteten Austausch, Kontakt zur Region sind die Insassen dort Null interessiert, laut meinem Vermieter Nikos. Hauptsache Sonne, Meer und good vibrations. Kulturimperialismus pur.
Ich hoffe, Sie, liebe Leserinnen, verstehen jetzt, worauf ich mit meiner Archetypisierung hinaus will, im Aufstöbern antizivilisatorischer Reflexe und Verhaltensweisen auch bei mitunter harmlosen und eigentlich liebenswerten Mitgliedern der menschlichen Spezies in unseren Breitengraden.
Ich für meinen Teil werde mich nächstes Jahr wohl auf die nahegelegenen diapontischen Inseln zurückziehen, um meine Nerven in purer Einsamkeit zu schonen, auch wenn mich bei der letzten Überfahrt beinahe ein Brecher in stürmischer See vom Oberdeck gekegelt hätte. Eingeborene sitzen bei sowas immer unten. So blöd wie ich sind nur Touristen. Auch so ein Archetyp …..
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