
Curry 36, vom omnipräsenten Zweisternekoch Tim Raue hochgelobtes Fastfood-Paradies in Kreuzberg. Neulich hab ich‘s mal probiert, war ok. Am interessantesten war das Sprachbabylon an den Bistrotischen. Ich lauschte an meinem dem fremdartigen Klang zweier Koreanerinnen. Wir kamen ins englische Gespräch, sie wünschten mir in perfekter deutscher Sprachmelodie und Modulation „Ich wünsche Ihnen einen guten Appetit“. Ach, wäre mein Koreanisch nur halb so wohlklingend. Interessanterweise war am Vortag im Rahmen des Lunchkonzertes in der Philharmonie mit Seongkyung Kim eine junge, arrivierte Oboistin aufgetreten, aus Korea. So frug ich mich, nachdem sich die beiden Koreanerinnen mit einem perfekten „Wir wünschen Ihnen einen schönen Abend“ verabschiedet hatten, ob die Koreanerin als solche einen feineren Zugang zu Melodie und Sprache hat als der vielleicht eher tumbe und grobschlächtige Ostgote, ob das vielleicht am Bildungssystem liegt, und ob derart von lediglich anekdotischer Evidenz unterlegte erste Schlussfolgerung nicht eventuell ganz leicht ins rassistische Stereotyp hineinlappt. Seufzend verzog ich mich auf eine Molle und einen Korn, anders ist derartige Atzung auch nicht hinunterzuspülen, in die direkt nebenan gelegene Absturzkneipe „Bierexpress“. Man kann sein Essen auch da mit rein bringen. Ein überaus angenehmer Laden jenseits aller Trends und Szene-Wichtige-Miene. Kurzbeschreibung: Rauh, aber herzlich und 200 Jahre Knast im spärlichen Publikum. Eine Bereicherung des Stadtbildes im Kiez…

Oben erwähntes Lunchkonzert in der Berliner Philharmonie findet jeden Mittwoch von 13 – 14 Uhr im Foyer statt, immer einer Wundertüte voller Überraschung. Von 12 – 13 besteht die Möglichkeit zu einem Lunch aus dem excellenten Catering der Philharmonie für wenig Taler. Und das Schönste: Der Eintritt ist umsonst und es ist trotzdem nicht überlaufen. Ich checkte beim Warten in der milden Oktobersonne das Publikum, alles wohlerzogene und adrette Angehörige des Bildungsbürgertums. Schade, dachte ich, dass diese famose kostenlose Teilhabe am kulturellen Leben fast ausschließlich von jener Schicht genutzt wird, die es sich auch ohne das leisten kann und leistet.
Und rief mich im mählichen Vorrücken in der Schlange ob meines linearen, vielleicht vorurteilsbehafteten Denkens zur Ordnung, ließ es mäandern. Was, wenn jene Dame mittleren Alters vor mir im Burberry selbstständige Musiklehrerin ist, mit sinkendem Einkommen, weil Knappheit und Angst vor dem Absturz auch die bildungsbeflissene Mittelschicht zum Sparen zwingt und also der Burberry nicht nur aus Neigung, sondern auch aus Not das Mittwochsangebot annimmt? Ganz zu schweigen von der vierköpfigen Familie hinter mir, mit den beiden Zwergen im schulpflichtigen Alter. Beide Eltern ordentlich bis gut verdienend, denen aber der Wohnungseigentümer wegen vermeintlichem Eigenbedarf die bezahlbare Wohnung in Prenzlberg gekündigt hat und die vor dem unlösbaren Problem stehen, innerhalb des Cityringes eine bezahlbare Wohnung zu finden. Unter anderem wg. Schulweg der Zwerge.
Wenig ist so, wie es scheint. Auch das babylonische Sprachgewirr am Curry 36 stellt sich vielleicht nur für den der gröbsten Sorgen enthobenen kosmopolitischen Flaneur als bereichernde Note eines bunten, diversen, globalen Schmelztiegel Kreuzberg dar. Ein eingeborener Berliner, gleich welcher Herkunft, in einem prekären Job, mies bezahlt und gedemütigt von sadistischen Vorgesetzen, wird nach Feierabend in der U 8 an der Neuköllner Haltestelle Boddinstr. andere Wahrnehmungen und Empfindungen haben, wenn dort auf den Bänken, in den Ecken, Hauseingängen, osteuropäische Armutsmigranten im Fuselkoma laut, unverständlich krakeelen, das vorherrschende Idiom von jugendlichen Machos dort arabisch ist.
Das Stadtbild dort ist von einem komplett anderen Universum als jenes in Dahlem, wo elegante Villen hell, freundlich in der Herbstsonne vor sich hinlächeln und man als Flaneur nur sehr selten auf Leben trifft. Eine ehrenwerte Einsamkeit herrscht in den breiten Straßen von Dahlem. Unterbrochen höchstens von Eleganten, die ihre stilvollen Karossen besteigen.
Was will uns der Dichter damit sagen? Das Stadtbild gibt es nicht. Was es gibt, ist ein so unterschiedlicher Kanon von Stadtbildern, wie es Gruppen, Schichten, Spaltungen, Bruchkanten in der Gesellschaft gibt, jenseits der notorischen Klassen. Eine Stadtbild-Diskussion kann rassistisch verlaufen. Sie kann aber auch naiv verlaufen, wo sie nicht wahrnimmt, dass es zum Beispiel im Stadtbild um die Neuköllner Sonnenallee herum lebensgefährlich wäre mit einer Kippa herumzulaufen oder sich bunt und divers als queere Person zu inszenieren.
Gut, dass wir mal drüber geredet haben.