
Demo gegen Sozialabbau am 16.12 in Hannover. Ich hatte geschätzt, dass vielleicht 1000 bis 2000 Teilnehmende dabei sein würden, also angesichts der in die Hunderttausende gehenden Zahl von potentiell Betroffenen allein in der Region Hannover eine deprimierend geringe Zahl.
Es waren maximal 300. Ein Desaster, das nur unwesentlich durch den Gedanken an die heroischen 300 Spartaner gemildert wurde, die angeblich 480 vor unserer Zeitrechnung die Thermopylen gegen Zehntausende Perser verteidigt haben und dabei den Heldentod fanden, wenn man Herodot glauben will.
Nach einer Stunde war mir die Kälte in die Knochen gezogen und ich floh in Richtung Wärmendes von der Wallstatt. Mit dem Heldentod hab ich es auch nicht so, bin eher der Typ Vaterlandsverräter und Deserteur. Passend zu dieser martialischen Assoziation kam mir ein Artikel von Gabor Steingart aus dem „Focus“ unter die Augen. Steingart ist ein neoliberaler Wutbürger, aber gebildet, kenntnisreich und schreiben kann er. Der Focus hat sich mehr noch als Springers „Welt“ zu einem Sprachrohr der AfD entwickelt. Beide zusammen haben eine Auflage von über 600.000. Soviel zur medialen Reichweite von faschistischen AfD-Positionen bis weit hinein ins früher gutbürgerliche Lager.
Unter der Überschrift „Vom Facharbeiter zum „Nulllohn“-Menschen: Wie der Markt knallhart ausgrenzt“ schreibt unser AfD-Apologet Steingart über die Auswirkungen der Globalisierung hierzulande , Zitat:
„Die Lohnanpassung im Westen kennt zwei Erscheinungsformen, und nur eine davon ist für alle sichtbar. Es handelt sich dabei um die reguläre Lohnsenkung, wie sie heute für Arbeiter und kleine Angestellte im Westen gang und gäbe ist: mehr Arbeiten für weniger Geld, reduzierte Zulagen, dafür höhere staatliche Abgaben. In allen Ländern des Westens fand ein Abschmelzen der einfachen Löhne statt. Die zweite Form der westlichen Lohnanpassung ist gefährlicher, weil man sie in keiner Einkommensstatistik findet. Man neigt dazu, sie zu unterschätzen oder gar zu ignorieren. Die Lohnhöhe sinkt in diesem Fall auf null Euro (= meint: Massenentlassungen bei „uns“ auf Grund der globalen Konkurrenz, d. A.)…..
… Die Alternative lautet heute nicht Hochlohn oder Billiglohn. Die Alternative für Millionen Menschen in einfachen industriellen Berufen lautet Billiglohn oder gar kein Lohn. …
Für die deutsche Gesellschaft, vor allem den Mob der potentiellen AfD-Wähler, gilt daher nach Steingart folgender Marsch in eine düstere Zukunft des Billiglohns als Amazon-Lieferfahrer und des Sozialabbaus: „
… Eine Politik der hohen Regulierungsdichte und steigender Sozialabgaben beschleunigt den Prozess. Der Industriearbeiter wird mit derart hohen Abgaben belastet, dass er unter dieser Last zusammenbricht. Die SPD, die ihn retten sollte, versetzt ihm mit ihrer Politik den Todesstoß. Der Weltarbeitsmarkt hört nicht auf das Kommando von Bärbel Bas. …“
Das theoretische Fundament dieser halbrichtigen Einsichten ist aber natürlich nicht vor 100 Jahren als Theorie des Arbeitslohns auf dem Mist des von Steingart zitierten Soziologen Oppenheim gewachsen, sondern wurde vor über 150 Jahren von Karl Marx im „Kapital“ entwickelt und nennt sich Verelendungstheorie.
Die stimmte relativ, weil global gesehen, schon immer. Der bescheidene Wohlstand, der den Proleten im hiesigen globalen Norden für ein paar Jahrzehnte gegönnt wurde, basierte immer auch auf den Knochen – und das im wahren Sinn – der Ausgebeuteten und Unterdrückten im globalen Süden. Der Vorwurf gegen Marx, dass die absolute Verelendung der hiesigen Proleten Unsinn sei, hatte viele Jahre angesichts von Eigenheim, Auto und Malle-Urlaub für die einheimischen Facharbeiter seine Berechtigung.
Nun aber schwingt das Marxsche Verelendungspendel nach jahrzehntelanger Verzögerung mit voller Wucht zurück und kegelt Millionen von bisher Abgesicherter von der immer rasender rotierenden Scheibe der wirtschaftlichen Entwicklung ins prekäre Elend. Mittlerweile gibt es auch bei uns Formen von absoluter Armut, die es früher nur im globalen Süden gab.
Steingart formuliert das anschaulich und fast so gut wie ich: „
… Dieses Aussteuern gut bezahlter Stammbelegschaften aus dem glühend roten Kern der Volkswirtschaft und ihre Überweisung auf die Kruste oder in die Randzonen der Produktivität ist die brutalste und dennoch in Europa die gebräuchlichste Form der Lohnangleichung nach unten…. „
Was unser Wutbürger richtig und zwangsläufig findet, vor allem, weil es ihn nicht betrifft. Nichts läge ihm ferner als die rettende Idee der internationalen Solidarität und eines radikalen Klassenkampfes.
Ich aber werde dereinst für den Begriff „Marxsches Verelendungspendel“ in die Annalen der Soziologie eingehen.