
Strumpf Vitrine. Bei diesem Anblick überfiel mich eine wehmütige Sehnsucht nach einer Zeit, in der es noch Strumpf-Vitrinen gab. Es war eine vermeintlich heile, übersichtliche Welt. Ich war jung, Zukunft spielte keine Rolle. Das Schlimmste, was passieren konnte: Man kotzte nach durchzechter Nacht im Morgengrauen vor einer Strumpf-Vitrine auf den Bürgersteig. Ob das im Bild oben immer noch mein Kotzhaufen von damals ist?
Gutes Benehmen sieht natürlich anders aus.
Laut Spiegel gibt es neue Trends. Benimmkurse boomen. Im Hamburger „Vier Jahreszeiten“ werden Kurse für Kinder ab vier angeboten, vier Stunden für 245 Euro, inklusive Dreigängemenü. Hier werden, Affen gleich, Kinder des Kapitals dressiert für den Kampf ums Überleben, auch am Büfett.
Da wär ich gerne dabei, wenn denen beigebracht wird, dass es einem Kapitalverbrechen gleichkommt, wenn man einen Barolo aus einem Burgunderglas trinkt. Ob die dann auch, gleich mir in frühen Jahren, ihre Kotzsignaturen vor dem Vier Jahreszeiten in das hanseatische Pfeffersackpflaster stempeln?
Man kann das krank und dekadent finden, leider ist es aber viel schlimmer. Es ist Ausdruck des Klassenkampfes, der nach wie vor und erbarmungsloser denn je, zwischen den Vier Jahreszeiten und den Strumpf-Vitrinen dieser Welt stattfindet. Benimmregeln, bürgerliche Anstandsregeln, vom Adel geborgt, waren schon immer Ausgrenzungsstrategien des aufstrebenden Bürgertums gegen den Mob, der nach oben strebte und auf Abstand gehalten werden musste, ökonomisch, kulturell, habituell. Zeige mir, wie Du isst, und ich sage Dir, wer Du bist. Draußen geht die Welt kaputt und dieser Zustand muss ums Verrecken vor den Pforten des Vier Jahreszeiten gehalten werden. Die Kettenhunde, Bastarde und Erben des Kapitals müssen für ihr späteres mörderisches Handwerk auf den Weltmärkten wenigstens einen zivilisatorischen Lack erhalten, wenn es für Kultur schon nicht reicht. Dressed to kill, Eintritt ab vier Jahren. Und wenn man über die Verlotterung der Sitten klagt, die älteste Klage der Menschheit, lenkt man wunderbar von der Verrohung der Gesellschaft ab. Das Eine, die Verlotterung, ist individuelles Versagen, welches in Seminaren weggebügelt werden kann. Das Andere, die Verrohung, ist das Produkt des neoliberalen Kapitalismus als Menetekel eines nahenden Faschismus…
Ebenso bedenklich, aber wenigstens lächerlicher, ein anderer Trend, der auf den ohnehin explodierenden (irgendwie eine meiner Lieblingsvokabeln, jede Zeit findet ihren sprachlichen Ausdruck) Esoterikwahn in unserer Gesellschaft aufsetzt. »Etsy-Hexen« sind der neue spirituelle Trend (Etsy ist eigentlich eine Verkaufsplattform für Handwerks-Gedöns). Wahrsagerinnen und Schamanen versprechen, im Rahmen der Tiktokisierung der Welt, auf Onlineplattformen für 35,51 Euro mit magischen Ritualen die Liebe zurückzubringen, die Regelblutung dem Urlaub anzupassen, einen neuen Job etc. pp…
Die Schlauen, die Onlinescharlatane, leben von der Dummheit der Käufer. Auch das ein ehernes Gesetz des Kapitalismus.
Im Ausgang der „guten, alten“ Zeiten, siehe oben, in den Achtzigern, verschwanden peu a peu die linken Buchhandlungen aus dem Stadtbild (das dürfte den Fachmann für Stadtbildreinigungen, den Sauerlandrocker Fritze Tünkram, gefreut haben), dafür schossen Esoterikläden mit Volksverdummungsliteratur, Mondsteinen und anderem Gedöns aus dem Boden wie Magic Mushrooms nach einem warmen Regen. Die Utopie einer kollektiven, solidarischen, emanzipatorischen Welt war in den Kinderschuhen nicht nur der RAF kläglich eingegangen. Die Kinder von Marx und Engels retirierten ins individuelle Glück der Selbstverwirklichung und Selbstoptimierung, die Enkel landeten nach diesem langen Marsch als Etsy-Hexen.
Das ist ebenso verständlich wie logisch. Das Abtauchen der Welt in Irrsinn produziert Angst, Überforderung. Parallel zum Boom von Esoterik und Aberglauben nehmen psychische Erkrankungen zu, steigt der Verbrauch an Psychopharmaka. Das ist die dunkel-pathologische Kehrseite der gleichen Medaille, auf deren strahlenden Vorderseite uns die Etsy-Hexen anlachen. Wohl dem daher, der einen breitgestreuten Pharma-ETF in seinem Portfolio hat.
Wahrlich, wahrlich, ich aber verkünde Euch, liebe Leserinnen, eine frohe Botschaft der Hoffnung zum Christfest: Ich habe bei meiner Lieblings-Etsy-Hexe einen Fluch bestellt, wonach alle Leute Donald Trump hassen sollen.
Das Gleiche hatte die Website Jezebel gemacht für den rechten Hetzer Charlie Kirk. Wenige Tage später wurde Kirk erschossen.
Frohe Festtage, liebe Leserinnen.