Überwinternder Hibiskus im Arbeitszimmer. Über Nacht plötzlich erblüht. Lichtblicke gibt es nur im privaten Bereich.
Der Blick in aktuelle Schlagzeilen hat im besten Fall etwas von einer Groteske, im schlimmsten Fall etwas von einer Vorapokalyse. Wir hierzulande haben keine Apokalypse, die herrscht im Sudan, in Syrien, an der Front in der Ukraine. Wir haben Winter, Frost, Bundestagswahlen und bis Morgen Alice im Wunderland Weidel. Dann ist ihre „Hitler was a communist“-Aussage Schnee von gestern, zerrieben im Mahlstrom der täglichen medialen Ungeheuerlichkeiten. Wenn Weidels groteske Aussage für überhaupt etwas gut war, dann dafür, dass sie wie mit einem Brennglas den Zustand des öffentlichen Diskursverhaltens kenntlich gemacht hat. Und damit den Zerfall unserer bürgerlichen Öffentlichkeit.
Die kann man mit Fug und Recht kritisieren, nicht zuletzt ist sie Trägerin und Stütze von Macht und Herrschaft in unserer Gesellschaft. Und insofern auch Trägerin und Stütze von Unterdrückung und Ausbeutung in einer Klassengesellschaft. Die wurde den einheimischen Volksgenossen, vulgo dem deutschen Facharbeiter, bisher versüßt durch Eigenheim, Auto und zweimal Malle im Jahr. Aber mit diesem Sozialklimbim wird ja jetzt aufgeräumt.
Bürgerliche Öffentlichkeit hat uns aber auch oft den Blick in eine herrschaftsfreie Zukunft, in eine Utopie, ermöglicht: Durch Vielfalt von Medien, Meinungsfreiheit, technische Medienentwicklung, Diskursoffenheit. All das trug in sich den Keim der Überwindung jener Verhältnisse, der bürgerlichen Herrschaft, die so etwas wie bürgerliche Öffentlichkeit überhaupt erst ermöglicht hatte. Aber das ist alles Schnee von gestern, versandet im allgemeinen hysterischen Blablabla sozialer, unkontrollierter, faktenfreier Medien. Und in der Angst vor dem sozialen Absturz.
Keine Utopie mehr. Meinungsfreiheit bedeutet nur noch, faktenfrei mit dem größtmöglichen Unfug die größtmögliche Reichweite zu erzielen. Daran zerschellt auch das gutgemeinte, hilflose Gebaren bürgerlicher Medien, mit sogenannten Faktenchecks die Lügen von AfD und anderen zu enttarnen. Also: Aussage Alice Weidel: Hitler was an communist. Faktencheck: Hitler was not an communist. So what, who cares? Die Gutmeinenden sagen: Wusste ich’s doch, die Nazis lügen wie gedruckt. Werden also in ihrer Gutmeinung weiter bestätigt. Und den Nazis geht jeder Faktencheck am Arsch lang.
Es gilt das Prinzip: Aussagen haben heutzutage keine Bedeutung mehr. Bedeutung steht für den durch ein Zeichen, ein Wort oder eine Aussage hervorgerufenen Wissenszusammenhang. Die Bedeutung weist auf den Sinn einer sprachlichen Äußerung.
Wo aber Wissen und Fakten nicht mehr gelten, gibt es keinen Zusammenhang mehr, keine Bedeutung. Kommunikation findet nicht statt. Ich kann auch behaupten „Hitler was a feminist“. Oder: „Im April fällt Schorf von der Decke, weil die Erde eine Scheibe ist “ oder: „Grrgh“. Es ist egal, solange es Resonanz erzielt.
Beispiel: Coronaschwurbler haben behauptet, Impfungen hätten schwerste Nebenwirkungen und würden Millionenfach töten. Fakt ist: Etwa 65 Millionen Menschen in Deutschland haben sich gegen das Coronavirus impfen lassen. Bei 467 von ihnen haben die Behörden laut einem Medienbericht einen Impfschaden anerkannt, 0,00072 Prozent. Coronaimpfungen haben ein noch größeres Massensterben verhindert. Diese Tatsachen dürften jedoch nicht einen einzigen Schwurbler von seinem Wahn geheilt haben.
Aussage: Wahn ist Faktenresistent. Faktencheck: Stimmt.
Na dann, schönes Wochenende, liebe Leserinnen.