
Der einzige Nutzen, den das aktuelle Wetter aus meiner Sicht hat: es liefert die ideale Temperatur für Sekt. Sekt muss knochentrocken sein, am besten nahe Null Gramm Restzucker. Ohne jede Zugabe von Dosage Likör, der normalerweise die Eigennote eines Sektes ausmacht. Das Verfahren nennt man Dosage Zéro , was oft auch auf der Pulle draufsteht. Und Sekt sollte nahe Null Grad gekühlt sein, wärmer wird er von alleine im Glas. Bei ca. minus sieben Grad friert Sekt und das Aroma wird getötet. Minus zwei Grad ist optimal, da friert er wegen des Alkoholgehaltes noch nicht. Natürlich ist das ein Luxus“problem“, aber meine gesellschaftliche Utopie ist eh: Luxus für alle. In Fragen von Geschmack und Stil gibt es für mich keine Kompromisse, da halte ich es wie mit dem (politisch-philosophischen) Marxismus: Beinhart orthodox.
Der realpolitische Marxismus wurde ja unter anderem in der ehemaligen Sowjetunion derartig gekreuzigt, dass er nicht nur alsbald zu Grabe getragen wurde, sondern als düsterer Wiedergänger und Zombie mit Bezug auf Stalin im heutigen Restrussland finstere Wiederauferstehung als Imperialismus feiert. Ein Imperialismus, der im Prozess seiner permanenten Selbstradikalisierung zunehmend faschistische Züge annimmt.
Und damit kommen wir zum besinnlichen Teil der heutigen Sonntagspredigt zum ersten Advent (Dominica prima adventus): Dem Prozess gegenseitiger Abhängigkeit und Radikalisierung von Religion und Herrschaft. Im konkreten Fall des imperialistischen Russlands an der Schwelle zum Faschismus und der orthodoxen Kirche. Das ist für den Fortgang und mögliche Entwicklungen des Ukrainekrieges nicht ganz trivial, weil beide Systeme, Faschismus und Religion, lebensfeindlich sind und ihre Erlösungsphantasien in ein Jenseits projizieren. Ihnen kommt es nicht auf den Himmel und den Luxus oder auch nur Lebendiges auf Erden an, sondern auf eine Erlösung im Jenseits, im Paradies, in einem fernen, nie zu erreichenden Tausendjährigen Reich. Also kann das Volk ruhig in den Blutmühlen und Stahlgewittern an der Front hunderttausendfach zermahlen werden, für ein höheres Ziel, eine ewige Nation – im Paradies wartet ja Erlösung.
Der Begriff „Tausendjähriges Reich“ wird sowohl in der christlichen Mythologie verwendet, als auch in der des Nationalsozialismus, hier oft auch „Drittes Reich“ genannt, kein Zufall. Und nicht zufällig fand auch das Folgende gerade jetzt statt:
Der „Weltkonzil des Russischen Volkes“ im Großen Kremlpalast, dem Gebäude, in dem zu Sowjetzeiten die Parteitage der Kommunistischen Partei abgehalten wurden. Dieses Konzil wurde vor 30 Jahren als Organisation der Russisch-Orthodoxen Kirche gegründet, beim aktuellen waren alle namhaften Vertreter des russischen Faschismus vertreten. Er begann letzten Dienstag, mit einem Gebet:
Putin erschien auf einer riesigen Leinwand, mit zwei Bildern von Jesus Christus zu beiden Seiten, ein Kirchenchor sang. Zehn Minuten lang betete der ganze Saal buchstäblich zu Putin. Auf der Bühne stand nur eine Person – der orthodoxe Patriarch Kirill. Und Putin war überhaupt nicht anwesend – er war nur auf dem Bildschirm zu sehen, weil er sich entschlossen hatte, per Videolink zu sprechen. Putin war also dem irdischen Geschehen schon entrückt, bewegte sich in Gefilden der Vorhersehung. Mit der hatte es der Quasi-Messias Hitler ja auch.
Und Putin bezeichnete Russland in der Rede so, wie es noch nie jemand vorher gemacht hatte: als »ein tausendjähriges, ewiges Russland«.
Diese Inszenierung bildete in meinen Augen eine Zäsur, eine Grenzüberschreitung.
Vier Tage später wurden klerikalfaschistische Allmachts- und Vernichtungsphantasien auf der Straße umgesetzt : Die russische Polizei hat in der Hauptstadt Moskau nach einem neuen „Extremismus“-Erlass laut Medien Nachtclubs unter anderem für Homosexuelle mit Razzien überzogen.
Ein erster Schritt, dem weitere folgen werden.
Da der Ukrainekrieg für Russland sich immer positiver entwickelt, keine nennenswerte zivilgesellschaftliche Opposition existiert, die Geschäfte für Russland brummen und die Staatengemeinschaft außerhalb der Kern-Nato ganz andere Probleme hat, würd ich nicht darauf wetten, dass die Welt in den nächsten Jahren eine friedlichere wird.
Soweit die heutige Predigt zum Dominica prima adventus. Gehet hin in Frieden. Göttin helfe uns. Wir singen nun Lied Nr. 68 „White light, white Heat“ im Gesangbuch, von Prälat Lou Reed, in dem es um eine Epiphanie geht