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09.06.2023 – Über gesellschaftliche Normen

Yorckschlösschen, Kreuzberger Institution, Live Club und Biergarten. Hier hat sich seit den 70ern nichts verändert. Neulich wollten wir dahin. Am Fenster im Parterre unseres Hauses saß Dieter und rauchte. Wir hielten kurz an: „Na, wie isses?“ Er klang unbegeistert: „Was soll’s. Muss ja. Nächste Woche im Bundeswehrkrankenhaus. Die wollen da nochmal was machen.“ Dieter hat Krebs, unheilbar, vom Scheitel bis zur Sohle. Noch ein paar Monate. Man hat ihn aus dem Knast entlassen, Haftverschonung, damit er Zuhause sterben kann. Seine Frau bemüht sich auch um Hafturlaub, um ihn zu besuchen. Dieter, seine Frau und sein Zuhause lebender Sohn haben ein Familienunternehmen gegründet. Drogenhandel. Unabhängig vom „Druckfesten“, Jahre nach ihm. In derartigen Mengen, dass die ganze Familie ohne Bewährung in den Bau einfuhr, nachdem sie erwischt wurde.

Dieter und der Druckfeste sind ganz normale Leute, keine Dealer a la Altfreak mit langen Haaren und Lederjacke oder Neondealer mit Ray-Ban-Sonnenbrille und Gelhaar-Hackfresse. Sie handelten einfach einer gewissen Logik und gesellschaftlichen Norm entsprechend. Die Perspektive eines Lebens als Groß- und Einzelhandelskaufmann in Legebatterieähnlichen Großraumbüros oder als Staplerfahrer in vesifften Fabrikhallen erschien ihnen wohl offensichtlich so wenig verlockend, dass sie ihr Erwerbs-Portfolio erweiterten, gemäß dem Motto: Ist der Handel noch so klein, bringt er doch mehr als Arbeit ein.

Hand aufs Herz respektive aufs Portemonnaie: Wer von uns Normalos hätte nicht schon mal von einem Leben in Saus und Braus, Luxus und Dekadenz geträumt? War früher, in der Phase des Wiederaufbaus nach dem Krieg und der Stabilisierung unserer Gesellschaft, gesellschaftliche Norm der Konsumverzicht, das Sparen, der Triebaufschub – „Spare in der Zeit, dann hast Du in der Not“, die klassisch protestantisch-kapitalistische Verzichtsethik – so trat mit wachsender Demokratisierung ab den 70ern Konsum in den Vordergrund. Man gönnte sich wieder was. Demokratie und Konsum sind untrennbare zwei Seiten einer Medaille. In späteren Phasen entwickelte sich schamlos zur Schau gestellte Dekadenz von überschießendem Luxus und Prasserei als permanent medial verbreitetes gesellschaftliches Leitbild, verknüpft mit grenzenloser Verachtung für alles, was nach Armut und Prekariat riecht. Man schaue nur mal 30 Sekunden in die Fratzen der Millionärsfamilie Geissen , ein TV-Sozialpornoformat der übelsten Sorte. Läuft seit 2011.

Wer wollte es also den Druckfesten und Dieters dieser Welt verübeln, wenn sie versuchen, auf ihre Weise ein Stück vom goldenen Kuchen abzubekommen. Nicht immer nur Schwarzbrot.

Und wer ab und zu mal einen Joint raucht und einen Beutel Gras für nen Zwanni beim Kumpel kauft, sollte sich klarmachen, dass das Zeug nicht abgepackt in Plastiktüten von Rosinenbombern abgeworfen wird, sondern auf üblichen Handelswegen in Verkehr gebracht wird, auch in großen Mengen. Vielleicht wird das durch die Legalisierung von Marihuana mit nachfolgender Subsistenzwirtschaft und lokalen Selbstversorgungsstrukturen etwas besser, aber bis dahin gelten die Gesetze des Handels, auch für Illegales. Es gibt keine rauschfreie Gesellschaft und hier erfüllen Dealer wie der Druckfeste und Dieter eine nicht akzeptierte, aber notwendige Funktion. Siehe auch Prostitution.

Die Geschichte des Druckfesten kenne ich schon länger, wir verklappen ab und zu zusammen vor dem türkischen Imbiss in unserem Haus ein Bier. Aber nachdem ich die Geschichte von Dieter erfahren hatte, hab ich doch mal vorsichtig nachgefragt: „Es gibt aber schon noch Leute im Haus, die nicht kriminell sind?“

08.06.2023 – Ein unbedingtes Argument für das Flanieren.

Was mir beim Flanieren so in die Agen fällt: Parteibüro der KPD/RZ. Kommunistische Partei Deutschlands/Rote Zelle? Kreuzberger Patriotische Demokraten/Realistisches Zentrum . Irgendwo in Kreuzberg, lange verlassen. Vor Jahren ist diese Partei mit der Satirepartei „Die Partei“ fusioniert. Die KPD/RZ war nach der von mir gegründeten Partei „SCHUPPEN 68“ die zweite Satirepartei, die bei einer Wahl in Deutschland antrat, 1995 in Berlin, und erhielt in Kreuzberg 2,8 Prozent, 1.472 Zweitstimmen. Die Partei SCHUPPEN 68 trat 1991 zur Wahl in Hannover an und erhielt im Komplementärbezirk zu Kreuzberg, Hannover-Linden, 0,9 Prozent, 470 Zweitstimmen.

Eine der notorischen linksradikalen Postillen der damaligen Zeit, Spezial, würdigte unseren Wahlerfolg dahingehend, dass wir der von denen geschmähten Linken Liste die für einen Wahlerfolg nötigen Stimmen weggenommen hätten. Was uns wiederum von der Linken Liste kommunistische Prügelandrohungen einbrachte.
Wahl-Forderungen der KPD/RZ: »Rauchverbot in Einbahnstraßen« und »Ausgehverbot für Männer bei Temperaturen über 30 Grad«. SCHUPPEN 68 profilierte sich mit „Freibier und Erbsensuppe“, „Verbot des Tragens von nassen Hüten“ und zum Wahlkampf prangte mein Arsch auf Plakaten mit dem Slogan „Sie können uns kreuzweise“, mit den drei Wahlkreuzen des Wahlzettels. Genial ist noch untertrieben. Das war aus unserer Sicht nicht mehr zu toppen, beendete unsere parlamentarische Karriere und wurde so auch zum Mythos in Fachkreisen. Unlängst stellte mich der Moderator einer überaus ernsthaften Podiumsdiskussion auch mit den Worten vor:“ … und war unter anderem Gründer der ersten Satirepartei Deutschlands.“ Was mich zu Tränen rührte. Und die Erwartungsmesslatte im Publikum in schwindelerregende Höhen schraubte.
Während Reste von uns sich nach 1991 Aktionskunst, Perfomance und Kabarett hingaben, war die KPD/RZ noch mehrere Jahre parlamentarisch erfolgreich. Wenn man sich die Namen der Unterstützer der Partei durchliest, macht das die Maßverhältnisse zwischen Kreuzberg und Hannover-Linden deutlich: Bela B., Wiglaf Droste, Norbert Hänel, Bommi Baumann, Thomas Kapielski. Manche Hausgemeinschaften, vorher eher dem bürgerlichen Wahlzirkus abgeneigt, im legendären Teil-Bezirk SO 36 sollen komplett die KPD/RZ gewählt haben. Damit lässt sich arbeiten.
In Hannover-Linden hingegen fehlte es an kritischer Masse, um eine parlamentarische Kernschmelze einzuleiten. Dann gab es erste Todesfälle in unserem Kernteam, die legendäre Frau Dr. Anna-Maria Kötner-Holz, Entdeckerin des Holzweges und Namensgeberin des hiesigen Kötnerholzweges , wechselte in ein Kloster und unser Superstar, Peter Popstar, ein begnadeter und auf der Bühne allzeit volltrunkener Komödiant, zog weg.
Herrliche Zeiten.
Wir wandten uns der Kunst zu. Auch dort dem Mainstream um Jahre voraus.
Später erntete die Satirepartei „Die Partei“ die Früchte der Arbeit von KPD/RZ und SCHUPPEN 68. Das ist das Los der Avantgarde: Ruhm, Mandate und Kohle ernten die Nachgeburten. Dies gilt es sine ira et studio festzuhalten.
Und ich zehre ja noch heute davon. Als ich das obige Parteibüro beim Flanieren entdeckte, ploppten skurrilste und berührenden Erinnerungen ebenso wieder hoch wie ein paar Tage später bei der Vorstellung des Moderators. Bei dem ich mich unbedingt noch bedanken muss.
Aber das war schon eine merkwürdige Koinzidenz der Ereignisse. Die mich zum heutigen Blog veranlasst hat. Eigentlich wollte ich was über den Ukrainekrieg schreiben. Aber da fiel mir die Wahl nicht schwer.

06.06.2023 – Karneval, Krieg und Kosten

BILD

Gesehen beim Karneval der Kulturen. Dahinter, verdeckt, das Schild: Nie. Also:

Nie wieder Krieg.

Es ist alles eine Frage der Perspektive.

Stattdessen werden jetzt schon Staudämme im Ukrainekrieg gesprengt, wahrscheinlich der Russe. Aber eigentlich wissen wir fast nichts über den Krieg, wir verlieren die Orientierung in einem Meer von Mutmaßungen, Nachrichtenschnipseln, Meinungen, Pseudoexpertisen und als Krönung „Einschätzungen britischer Geheimdienste“. Da braucht sich um Objektivität niemand mehr den Kopf zu zerbrechen.

Fakt ist, das Sterben geht ohne Unterbrechung weiter, ohne Aussicht auf Ende oder auch nur Pause. Wird man (wer ist das eigentlich?) nach Jahren Krieg, Hunderttausenden Toten und verwüsteter Ukraine, einem Waffenstilstand ohne Aussicht auf Frieden, zu der Einschätzung kommen: Das war es wert? Das war die Verteidigung westlicher Werte und Freiheit (welcher Werte und wessen Freiheit eigentlich?) wert, auf den Knochen anderer?

Kein Wunder, dass ich lieber beim Karneval der Kulturen tanze. Ein veritabler Wirtschafts- und Standortfaktor. Zehntausende Besucherinnen aus aller Frauen Länder spülen zig Millionen in die Kassen der Hauptstadt, der Event macht Werbung für Berlin in aller Welt. Als ob das noch nötig wäre. Und als ob das nicht auch jede Menge negativer Konsequenzen, Kosten hätte. Wie die seit Jahren voranschreitende Gentrifizierung, die auch unser Haus in Kreuzberg nach dem Verkauf bedroht. Niemand dort könnte sich die Wohnungen leisten, wenn sie in Eigentum umgewandelt und zum Kauf angeboten werden. Die Hausgemeinschaft ist ein Panoptikum prekärer Existenzen. Wie der „Druckfeste“. Der hat seinen Namen der Tatsache zu verdanken, dass er 6 Monate in U-Haft saß und niemanden verraten hat. U-Haft heißt nicht: Unterhaltungshaft. Untersuchungshaft ist nicht Vergnügungssteuerpflichtig: 23 Stunden Einzelhaft, eine Stunde Rundgang im Hof, alleine, Arbeitsverbot, und im vorliegenden Fall: Kontaktsperre. Wegen Verdacht auf OK, Organisierte Kriminalität, Verdunkelungsgefahr, Vorbereitung von Straftaten etc. pp. Es ging um den Handel mit Marihuana und Haschisch in beträchtlichem Umfang, was ohne Logistik wie Einkauf, Lagerung, Verteilungssystem, eben angewandte Betriebswirtschaft, nicht möglich ist. Daher OK.

Nach dem das SEK ihn nächtens mit Rammbock und vorgehaltenen Waffen freundlich zum Mitkommen aufgefordert hatte, fehlten aus seinem Drogenkeller (ein durchgängiges Muster: Drogenbunker im eigenen Keller. Ich war mal Schöffe, ich weiß wovon ich rede. Von mir wären die Leute nicht wegen Drogenhandel bestraft worden, sondern wegen Blödheit) zwei Kilo Gras, die sich, neben Schmuck und Bargeld, das SEK unter den Nagel gerissen hatte. Ich glaube dem Druckfesten, er hat seinen Frieden gemacht. Nach einem Leben auf der Überholspur voller Sex and Drugs and Rock ‘n Roll und Schuhkartons voller Bargeld kriegte er später einen Schlaganfall und lebt nun von Grundsicherung, muss um jede medizinische Zusatzleistung mit den versteinerten Ämtern kämpfen. In dem Haus hat er noch soziale Kontakte, Unterstützung, Hilfe. Er sagt: „Lebendig gehe ich hier nicht raus, wenn ich die Wohnung verliere.“

Er ist kein Typ, der übertreibt. Auf dem Totenschein müsste dann eigentlich stehen unter Todesursache: Gentrifizierung.

Es gibt bei Veränderungsprozessen, wie Gentrifizierung, immer Gewinnerinnen und Verlierer. Die tragen die Kosten. Ist wie im Krieg. Die Veranstaltung nennt sich Kapitalismus und ist die Fortsetzung des Krieges mit anderen Mitteln.

Um nicht so düster aufzuhören: Der Druckfeste hat Groß- und Einzelhandelskaufmann gelernt. Da hatte er wohl was in den falschen Hals gekriegt. Oder nach kapitalistischen Gesichtspunken der Abwägung von Risiko und Profit, in den richtigen ….

01.06.2023 – Karneval Nachlese

Die Teilnehmenden am Karneval der Kulturen arbeiten das ganze Jahr auf diesen einen Tag hin. Da gibt es keine Folgekonzerte oder Auftritte, nur diesen einen Tag. Heroes just for one Day. Dieses Gefühl vermittelt sich auch den Zuschauerinnen. Na ja, nicht allen. Natürlich gab es einen gigantischen Haufen Müll, eine Riesensauerei sowas. Aber wo immer mehr Menschen ihr Leben nicht im Griff haben unter den immer schlimmer werdenden Verhältnissen, wie sollen die da ihr Abfallproblem in den Griff kriegen. Und hier beim Karneval haben sie endlich mal das Gefühl, nicht ausgeschlossen zu sein, Teil von etwas Großem, Schönen zu sein, etwas, das über sie hinausweist und für einen Moment den Blick auf eine mögliche, bessere Welt freilegt. Also ja, zuviel Müll. Aber das ist es die Sache wert und die Mädels und Jungs von der Mülle, so ihre Selbstbezeichnung, machen jeden Karneval einen phantastischen Job. Direkt nach dem letzten Karnevalswagen setzen sich Reinigungs-Kolonnen in Bewegung und ein paar Stunden später ist nichts mehr vom Spektakel der Hunderttausende zu ahnen. Schön auch die Gesundheitsbilanz: Es gab laut Presse gerade einen Kreislaufkollaps. Ich habe nicht einen Volltrunkenen oder Drogenüberdosierten gesehen.

Bergmannstr., Zentrum Kreuzbergs und Einflugschneise zum Karneval, am Tag des Umzugs. Alles dicht.

Arndtstr. gleicher Zeitpunkt, Parallelstr. 50 Meter weg.

Das Phänomen kennen Sie vielleicht aus gut besuchten Urlaubsorten. Im Zentrum ist der Teufel los, zwei Straßen weiter Leere, beschauliche Stille. Der Herdentrieb. Bei sowas von Schwarmintelligenz zu sprechen, scheint mir vermessen. Ich würde eher von Schwarmblödheit reden. Mir soll’s recht sein. War schön auf der Arndtstr. , mit Blick auf die Bergmann…

31.05.2023 – Im Rausch des Karnevals

Emily Intsiful, Souljazz, afrikanische Rhythmen, mit klassischen Koloraturen.

Ein außergewöhnliches Musikerlebnis beim Karneval der Kulturen, sollte die junge Dame mal in Ihrer Nähe gastieren, nichts wie hin. Traumwetter, fantastische Musik allenthalben, entspannte Stimmung, sattbunte Impressionen aus aller Welt , die durch Corona entwöhnten Sinne konnten sich vollsaugen. Später kamen wir mit einer jungen Bulgarin mit charmantem Schweizer Dialekt ins Gespräch, über Gott und die Welt. Sie bot uns von ihrem Gras an, mit so umwerfender Wirkung, dass ich froh war, gerade mal zu sitzen. Ich weiß noch, dass sie mich fragte, ob die Gedanken sich ändern, wenn man älter würde, ob man vergesslicher würde. Im Nebel des Grases schien mir die Frage von epochaler Bedeutung. Ich grübelte nach einer fundamentalen, alles ergründenden Antwort. Die Zeit deeeehnte sich, endlos. Ich versuchte, zu lächeln und hoffte, dass es nicht nach einer Gesichtslähmung aussah. Dann sagte ich, nach mehreren Jahrhunderten : „Äh, wie war Deine Frage nochmal?“

Irgendwann ist auch die schönste Fiesta mal vorbei. Mein Begleiterin blieb in einem U-Bahn-Fahrstuhl stecken und musste von der Feuerwehr befreit werden. Eine schöne Geschichte für spätere Lagerfeuer, aber wer die mitunter paranoid machende Wirkung von Gras kennt, weiß, dass das weniger lustig sein kann, als es sich liest.

Spät, früh, der Morgen würde demnächst grauen und mir auch, sass ich noch vor dem türkischen Imbiss in unserem Haus, WG-intern Hades genannt , und der Ex-Dealer aus dem 4. Stock erzählte Einzelheiten von seiner Verhaftung. Wie er von 12 Leuten vom SEK mit vorgehaltenen Waffen nächtens aus dem Bett geholt wurde, nachdem sie die Tür mit einem Rammbock geöffnet hatten. Ich kriegte vor Lachen Bauchmuskelkrämpfe. Er mit. Damals war es nicht so lustig.

Der Karneval der Kulturen war schön. Aber jedes Wochenende wär mir das zu anstrengend. Ich freute mich dann schon auf die nächste Ausstellung. Hugo van der Goes, Niederländer, Renaissance in Vollendung, ein Rausch der ganz anderen Art.

29.05.2023 – Karneval der Kulturen: Jung und Alt, Bunt und Divers.

Der Karneval existiert seit 1997 und bietet den über 500.000 Berliner*innen aus 140 Nationen die Möglichkeit, ihre Kulturen und Identitäten zu präsentieren. Er war unter anderem eine Antwort auf die rassistischen Brandanschläge, die als Folge der Wiedervereinigung bundesweit grassierten.

Ich flanierte durch die Sammelzone, wo die Wagen Aufstellung nahmen zum Start. Es war nicht so voll wie an der Umzugsstrecke , eine flirrende Atmosphäre voller Spannung und Vorfreude, die Akteure probten letzte Schritte, Trommelrhythmen, legten nochmal Hand an die Kostüme. Der erste Wagen war eine Sambaschule, gertenschlanke dunkelhäutige Berlinerinnen , die aus Kreuzberg ein Rio de Janeiro machten, umlagert von Fotografen, teils mit riesigen Objektiven . Diese Dinger haben was ziemlich phallisches. Ich fand’s einen komischen Anblick. Grundsätzlich gilt für den Karneval: Jung und Alt, Bunt und Divers.

Eingeladene Gäste aus dem Bundesgebiet: Die Freien Schnappviecher aus Recklinghausen , ein Kulturzentrum. Die Wagen sind unterschiedlich groß, kleine werden mittlerweile per Fahrrad gezogen. Das Wetter ist ideal, auf dem Festplatz rund um den Blücherplatz läuft heute noch die bunte Fiesta mit Rhythmen und Kulinaria aus aller Frauen Länder, an jedem zweiten Späti im Umfeld spielt ein DJ sein Programm, Kreuzberg im Ausnahmezustand. Der türkische Imbiss in unserem Haus, intern Hades genannt, macht den Umsatz des Jahres. Dazu später mehr, ich muss noch ne Runde chillen. Kraft tanken für den Endspurt.

27.05.2023 – Ich und der Karneval der Kulturen laufen uns langsam warm

Karneval der Kulturen, Kreuzberg, Festplatz rund um die Heilig Geist Kirche.

Der pfingstliche Verkehr in Berlin ist noch irrer als eh, auch die Radler rasen, als ob es kein Morgen gäbe. Mittlerweile trage ich den Helm, in Hannover eher sporadisch, selbst wenn ich das Veloziped schiebe. Vielleicht wirft der Karneval der Kulturen nach dreijähriger Coronapause ja seine fiebrigen Schatten voraus, beschwingt die Gemüter, lässt Herz und Trittfrequenz auf dem Radl schneller werden. Vom Geheimtipp hat sich der Karneval im Laufe der Jahre zu einem Megaevent entwickelt, vermutlich mit Bildern in der Tagesschau vom großen Umzug am Sonntag. Trotz Fülle herrscht aber eine vollkommen andere Atmosphäre als bei Fussball und ähnlichem, friedlich, beschwingt, kommunikativ, die Leute sind meist zu bekifft für Aggression.

Man erhält die Gelegenheit, den Feinheiten der Küchen aus Usbekistan, Georgien und dem Spreewald auf die Spuren zu kommen und wird beim flanieren über den Festplatz von einem Musikteppich zum anderen getragen. Gen Abend wirds allerdings voller. Dann werd ich allerdings auch meist träger. Wenn man immer diese Marihuana Schwaden mitinhaliert, das bleibt ja nicht ohne Folgen. Passivrauchen tötet. Früher oder später. Peace. Ich muss los. Der Karneval ruft.

26.05.2023 – Der Textilarbeiterstreik von Crimmitschau

Irgendwo in Kreuzberg. Autos interessieren mich so viel wie ein Betonpfosten in Oer-Erkenschwick, aber da hab ich schon mal hingeguckt. Zumal der laut Zettel hinten dran noch fahren soll. Der Besitzer befindet sich in einem erbitterten Krieg mit dem Ordnungsamt, dass das Ding weghaben will. Versuch sowas mal in Kreuzberg durchzusetzen.

Noch älter als diese famose Karre ist der Textilarbeiterstreik von Crimmitschau, eine Ikone unter den Streiks der daran nicht armen Arbeiterbewegung. 1903 geführt gegen unmenschliche Arbeits- und damit Lebensbedingungen: 11-Stunden-Tag, Hungerlöhne, die zum Leben nicht reichten und menschenverachtende Arbeitsbedingungen

Da die Arbeiterbewegung damals ständig am wachsen war, Gewerkschaften und SPD wurden immer stärker und einflussreicher, entwickelte sich der Streik über Monate zu einem „No pasaran“ seitens des Kapitals. Die Unternehmer wussten, wenn sie sich selber nicht organisierten und gegenhielten, würde ihnen eines Tages etwas drohen, was der erst ein paar Jahre zuvor verstorbene Karl Marx im „Kommunistischen Manifest“ prophezeit hatte: „Ein Gespenst geht um in Europa! Das Gespenst des Kommunismus…“

Und dieses Gespenst würde ihnen das Leichentuch weben.

Also schlossen sich die Unternehmer in Arbeitgeberverbänden zusammen, sammelten Geld gegen den Streik, mobilisierten Politik, Polizei, Presse, selbst die Pfaffen wetterten von den Kanzeln gegen die Streikenden, die dort unter Risiko ihrer Existenz um eine Verbesserung ihres erbärmlichen Lebens kämpften. Mit Erfolg.

Nach sechs Monaten brach der Streik zusammen, eine schwere Niederlage der Arbeiterbewegung, die allerdings für zukünftige Kämpfe als Fanal bewahret wurde und insofern positives hatte: Kein zweites Crimmitschau. Soweit in Kürze die Geschichte.

Mit einer kleinen Korrektur: Wenn Sie sich das Foto im Artikel des Links anschauen, sehen Sie: Alles Frauen. Es war ein Textilarbeiterinnenstreik. Anders als das männliche Genus uns vorgaukelt, waren es eben keine schwieligen Arbeiterfäuste, die sich da im Blaumann dem Klassenfeind trotzig entgegenstellten. Das ist, und jetzt kommen wir zur Nutzanwendung der Geschichte durchaus nicht trivial im albernen Sinne eines „Ach, die Frauen sind doch immer mit gemeint“.

Das durchweg maskuline Genus früherer Jahre bei allen Beschreibungen fand und findet natürlich Eingang als Datengrundlage in jene Algorithmen, die im Rahmen von KI auf der Basis der Vergangenheit über unsere Zukunft bestimmen. Da Algorithmen im Zweifel wissen, dass es – mindestens – zwei Geschlechter gibt, sie aber fast ausschließlich in männlichen Kategorien agieren und also auch maskulin zentrierte Entscheidungen treffen, die die Anwender*innen meist kritiklos übernehmen, kann das schon mal lebensgefährlich werden. Wenn nämlich Algorithmen medizinische Diagnosen und Therapien erstellen, deren Medikationen am männlichen Körper orientiert sind.

Weniger lebensgefährlich, aber diskriminierend: Personalentscheidungen auf KI-Basis, wenn die Arbeitswelt nach Daten-Basis ausschließlich bis überwiegend als eine männliche erscheint, werden natürlich sofort alle Frauen im Vorfeld automatisch aussortiert, wenn’s besonders dämlich läuft. Und KI ist, anders als der Name sagt, immer besonders dämlich, nämlich genauso dämlich wie die Menschen dahinter.

Die Geschichte kann sich zwar digital, durchaus fortschrittlich Marx folgend, als eine Geschichte von Klassenkämpfen darstellen, aber nach Algorithmen eben als eine von Männern geführte. Was das im individuellen aber auch kollektiven Unterbewusstsein, und in Schulbüchern, Feuilletons etc., für Bilder und Ressentiments produziert und tradiert, brauche ich Ihnen, meine Leserinnen, nicht zu sagen. Dem Rest der Welt schon.

Und deshalb gehe ich in diesem Blog gerne spielerisch mit der Frage der geschlechtersensiblen Sprache um und verwende oft die rein weibliche Form. Ich gehe davon aus, dass Sie, liebe Leser, dass nicht krummnehmen. Sonnige Pfingsten.

24.05.2023 – Ich find das lustig

Dosenöffner, gesehen neulich in einem Etablissement für Sporttreibende. Ein fetter, unfreundlicher Wirt, vermutlich im Dienstleistungsgewerbe in der Ostzone groß geworden, im Sanitärbereich Gemeinschaftsduschen und das Essen zum Kotzen, genau das Biotop, in dem solche Getränke gedeihen. Würde man dem Wirt sagen, dass sowas sexistisch ist und frauenfeindlich, würde er verständnislos die Schulter zucken: „Nö, ich find das lustig.“ Natürlich können frauenfeindliche, rassistische, etc. Witze, Satiren, Texte so sein, dass auch mal Menschen drüber lachen (müssen), die nicht frauenfeindlich oder rassistisch sind. Satire, Texte haben immer auch etwas mit Handwerk zu tun und wer sich da an gewisse Regeln hält, erzielt Wirkung auch mit Scheisse. Was aber immer bleibt neben der Oberflächenstruktur eines Textes, also dem Handwerk, ist natürlich die Tiefenstruktur. Die ist dann unter Umständen frauenfeindlich, rassistisch etc. Um das zu realisieren, braucht es aber ein Gefühl, eine Erkenntnis dafür, sei es durch Betroffenheit, Sozialisation, Empathie, Intellektualität, Belesenheit, Gespräche, was der Instrumente von Einsicht und Erkenntnis immer auch sein mögen.

Wer das nicht hat, wird immer sagen: „Nö, ich find das lustig.“ Da haben auch Argumente keinen Sinn, da fehlt der Resonanzboden, durch eine Mauer an Ressentiments kommen Sie nie mit Argumenten durch.

Lassen Sie mal einen Tischtennisball und einen Lehmklumpen nebeneinander auf den Boden fallen, dann werden Sie hören, was ich meine: Toktoktoktok, Resonanz ohne Ende. Und Lehm: Plopp.

Falls Ihr „Nö, ich find das lustig“-Gegenüber aus anderen Gründen so antwortet, besteht eine Chance auf Einsicht, nämlich dann, wenn der Betreffende aus der Scham des Ertappten so antwortet, der das nicht eingestehen will. Und/oder aus Trotz, nach dem Motto: „Er hat recht, aber von dem Penner lass ich mir nix sagen.“

Da können Sie auf Langzeitwirkung hoffen. Für das oben erwähnte Etablissement mit samt seinem (Lebend-)Inventar galt aber für mich von der ersten Sekunde Dantes Inferno:

„Ihr, die ihr hier eintretet, lasst alle Hoffnung fahren“.

Ich vermeinte förmlich, den Schweiß von Legionen von Dumpfbacken zu riechen, die nach getaner Fron in der Gemeinschaftsdusche …

Hier versagt mir die Sprache.

23.05.2023 – Bienen fliegen ziemlich CO2 neutral

Biene im Anflug auf Mohnblüte. Leider kriege ich mit meinem Smartphone keine besseren Aufnahmen von sowas hin. Aus dem Mohn produziere ich ein bekömmliches Schlafmittel. Wie heißt es doch in Vergils Metamorphosen so treffend: „„Jetzt erscheinet die Nacht, mit Mohn bekrönet die sanfte Stirn; es folget ihr nach schwärzlicher Träume Gebild.“

Bienen fliegen ziemlich CO2 neutral, was ich von mir nicht behaupten kann. Fliegen ist eine ökologische Schwerstsauerei, die mit Abstand klimaschädlichste Form der Fortbewegung. Zitat aus Spiegel Artikel, leider Bezahlschranke: Wer in den Urlaub fliegt, gefährdet das Überleben auf diesem Planeten.

Das ist natürlich Öko-Blödsinn. Das Überleben auf dem Planeten wird auch nach einer Klimakatastrophe jenseits einer 4 Grad Erderwärmung nicht gefährdet sein. Es ist nur die Frage, für wen. Für welche Individuen und welche Spezies. Im Zweifel werden es eher Reiche im globalen Norden sein. Die Frage ist, ob das wünschenswert ist.

Mir ist das ziemlich egal. Wütend macht mich das nicht, es sind eher Kopfgeburten, die da in mir walten, keine Emotionen. Es sind die konkreten, akut drohenden gesellschaftlichen Konsequenzen, die mich interessieren, nicht das abstrakt-ferne, idealistische Ziel einer Weltenrettung. Weltenrettung ist Romantik und die, das wissen wir spätestens seit der Vollendung der Romantik im Nationalsozialismus, ist der Vorort der Hölle

Reisen, also auch Fliegen, entspannt, erweitert Horizonte, verbindet, baut Ressentiments ab, ist Bildung, identitätsstiftend, sorgt für Distinktion, Mehrwert an sozialem Status. Das allerdings reduziert sich zunehmend im Zeitalter von Flugscham. Mit einem Reise per Hundeschlitten durch Meck-Pomm dürfte man eher Distinktionsgewinne erreichen.

Wer reist, ist auf der Suche nach dem Glück und sich selbst. An Menschen, die nicht reisen, geht ein wesentlicher Teil des Lebens vorbei. Deshalb gehört zur Definition von Armut zumindest in der EU, also relativer Armut im Gegensatz zu absoluter Armut im globalen Maßstab, neben Mangel an Einkommen, Ausschluss von Bildung und Gesundheit, fehlenden Rücklagen, Energiemangel etc. auch der Ausschluss von Reisen und Urlaub, was für über 20 Prozent der Bevölkerung zutrifft.

Gut für den Planeten, werden da die Ökos sagen, zumeist jene, die selber nicht fliegen, nicht von Armut betroffen sind und sich eher nicht durch ein Übermaß an soziologischer Phantasie auszeichnen.

Da sind mir die Grünen-Zyniker fast lieber, die den Planeten retten wollen, koste es, was es wolle. Und wenn es die Gasheizungen von ca. 7 Millionen deutschen Haushalten sind. Nach Verabschiedung des Entwurfs für das Heizungsgesetz flog die Hälfte der beteiligten Grünen-Referentinnen erstmal in den Urlaub, war ein hartes Stück Arbeit.

Dieser handwerkliche Pfusch, den die produziert haben, in guter deutscher Idealismus-Tradition des „Am deutschen (Heizungs-)Wesen soll die Welt genesen“ treibt schon jetzt der AFD in Scharen das Wahlvolk in die Arme und wird die nächste Wutwelle auf den Straßen hervorrufen.

Das macht mich schon eher wütend. Das Ökogedöns lässt mich kalt, was angesichts der wegen El Niño zu erwartenden Hitzewellen ein gesundes Gefühl ist.

Bedenklich, weil mich als Älteren potentiell auch treffend, stimmen könnte mich höchstens folgendes: Im vergangenen Jahr starben in Deutschland laut Robert Koch-Institut (RKI) etwa 4500 Menschen infolge von Hitze. Europaweit gab es in den Monaten Juni bis August 2022 sogar eine Übersterblichkeit von mehr als 100.000 Menschen. Das dürfte sich angesichts der drohenden El Niño Hitzejahre noch vervielfachen.

Aber da es in meinem nach Norden gehenden Arbeitszimmer noch nie wärmer als 24 Grad geworden ist, plane ich kühlen Gemüts die nächste Flugreise nach Korfu. Natürlich mit Kompensation. Und selbstverständlich bin ich für ein sofortiges Verbot von Flugreisen unter 1.500 km.

Die Luftlinie Berlin-Korfu beträgt übrigens 1.518 km.