Beim Arzt. Tausende von Patienten drängelten sich in dunklen mäandernden Fluren, hockten auf Kleiderständern, klammerten sich an Deckenlampen und planschten verzweifelt gar im Aquarium. Vorher fühlte ich mich elend, hier ward mir sterbenskrank. Zwei Paare fielen mir auf, südländischer Herkunft beide, ein Vater mit seiner Tochter, die schon lesen konnte, und eine Mutter mit ihrem Sohn, etwas jünger. Das Mädchen hielt sich in der stundenlangen quälenden Warterei wie eine Heldin, saß vollkommen ruhig neben dem Vater, ab und zu lesend. Der Junge war ein Satansbraten, der nicht eine Sekunde ruhig blieb, Bücher in die Gegend warf und überhaupt einen Heiden(?, politisch korrekt?)lärm veranstaltete, dem die Mutter nicht nur keine Grenzen setzte, sondern was sie vielmehr alles mit einem stolzen Lächeln begleitete, als ob der Troglodyt gerade die Relativitätstheorie widerlegt hätte. Kurz bevor ich ihn mit einem Kinnhaken zur Raison bringen konnte, beging er den Fehler, eine der Sprechstundenhilfen zu nerven, die derartig rigoros dazwischengrätschte, dass die Mutter die Nervensäge auf den Flur verfrachtete. Ich entspannte meine Faust und setzte zu Gedankenausflügen an über die Interdependenz von Genderdiskurs und Interkulturalität. Welche Verhaltensmuster hatten sich hier überlagert? Inwieweit griff hier die Genderkritik, nach der in der hier vorliegenden Mutter-Sohn Dyade die südländische Machismo-Kultur antizipiert wird, zumal wir ja das Komplementärstück der Vater-Tochter Dyade prototypisch vor Augen geführt bekamen?
„Herr Gleitze, bitte!“
Ich war erlöst und konnte meiner Diagnose entgegen streben, erleichtert, egal, wie tödlich auch immer sie sein mochte. Die zauberhafte Sprechstundenhilfe machte ich aber unsterblich in mich verliebt, indem ich ihr beim Hinausgehen ein „Ich wünsche Ihnen eine ruhige Mittagspause“ entgegen hauchte. Ihr Blick daraufhin entschädigte mich für alle vorangegangenen Qualen.
Dazu passt kein Bild dieser Welt. Nur eines aus dem Archiv aus den Achtzigern, als der alte SCHUPPEN 68 noch stand.

SCHUPPEN 68, links mit Schornstein. Requiescat in pace!
08.07.2015 – Über die Interdependenz von Genderdiskurs und Interkulturalität
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