15.09.2016 – Abschied vom Sommer

sonnenaufgang
Der Nebel steigt, es fällt das Laub;
Schenk ein den Wein, den holden!
Wir wollen uns den grauen Tag
Vergolden, ja vergolden!

Von Theodor Storm. Bisschen flach im Niveau, trifft’s aber, auch wenn erst der morgige Tag grau wird. Toller Spätsommer, ich habe jeden Tag genossen, auch eingedenk des Tagebuchs von Wolfgang Herrndorf „Arbeit und Struktur“, in dem er die Entwicklung von der Diagnose seines Hirntumors bis kurz vor seinem Selbstmord beschreibt. Weiß ich, wie viele Sommer mir noch bleiben? Herrndorfs Erfolgsroman „Tschick“ kommt jetzt in die Kinos, den beginnenden Erfolg hat er noch miterlebt, nachdem er jahrzehntelang als prekärer Kulturarbeiter rumgegräpelt hatte, trotz diverser Veröffentlichungen und Preise.
cdu springe
Weißt Du’s schon oder überlegst Du noch?
Ich bin wegen eines Aspektes ganz froh, dass ich seit einigen Jahren, hauptsächlich aus Zeitgründen, kaum noch eigene professionelle Kulturprojekte verfolge: Erfolg bemisst sich immer auch an Einnahmen (neben der Komplementärwährung „Aufmerksamkeit“) und da würde ich bei jeder finanziellen Jahresbilanz unweigerlich ‚ne Sinnkrise kriegen. Diese Frage stellt sich zur Zeit nicht.
Mit zunehmendem Alter stellt sich das vermeintliche Bohémienleben von Kunstproduzentinnen als schlichte Vorbereitung auf Altersarmut dar. Ich kenne keinen auf Hartz IV angewiesenen Künstler jenseits der 50, der vor Kraft, Gesundheit und Zuversicht nur so strotzt.
Das muss ich nicht haben. Dann lieber die bittersüße Einsicht: Es hat eben nicht gereicht.
Ich hätte ja jeden Tag nach Feierabend Kultur produzieren können. Kafka hat seinen „Prozess“ schließlich auch nach Büroschluss geschrieben (Kafka war natürlich nicht arm, das ist ein Mythos). Ich habe nichts gegen Fleiß, im Gegenteil, mitunter arbeite ich 7 Tage die Woche. Aber sobald die Grenze zur Selbstverleugnung überschritten wird, ist Ende im Gelände. Dann lieber paar Tage in Berlin abhängen oder am Kiesteich frohgemut die Fachartikel und Konzeptpapiere, die ich zwecks Lektüre und Korrektur immer dabei habe, ignorieren und einfach aufs Wasser glotzen. Wenn ich nicht gerade drin bin.
Und das Leben kann mitunter so schön sein, wie meine morgendliche Spam von „Dealx“, die mir heute folgendes anbietet:
„FOTL Jogginghose offen 6,99 €, Geographical Norway Herren Poloshirt – Kakao 16,99 €, Überraschungspaket Trachtenhemden (4 Stück) Herren Gr. 40 45,- €.“
Abgesehen davon, dass es Lichtjahre an personengebundener Werbung vorbeizielt, ist das ganz große Literatur, die die Grenzen von Transzendenz und Komposition weit hinter sich lässt: „FOTL Jogginghose offen 6,99 €“. Kann man nichtgreifbares Grauen besser in Worte fassen? Und wo wäre je konzisere Humordialektik des irrlichternden Widerspruchs als in „Überraschungspaket ….. Trachtenhemden (4 Stück) Herren Gr. 40 45,- €“.
6.17 Uhr, 20,3 Grad Celsius, noch eine Tasse Tee, dann bis 14 Uhr ackern und dann ….

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