26.03.2022 – Über Minenhunde, Cocktails und Bowler-Hüte


Dass es dem stationären Einzelhandel durch die Internetkonkurrenz so schlecht geht, dass er sogar sein Personal zum Kauf anbietet, war mir neu. Aber wovon soll man in Zeiten von sich überbietenden Dauerkrise überrascht sein. Im russischen TV wird zur Primetime einem Atomkrieg das Wort geredet. Worüber wir reden, davon können wir auch handeln. Man kann den eigenen Untergang auch herbeidelirieren.
Ich habe keine Ahnung, ob solche Sendungen im russischen TV einfach nur Krawallquotengeil sind, das Volk kriegsfähig senden wollen oder sogar die Funktion des bekannten Minenhundes haben, die wir auch in unserer Politik kennen. Irgendjemand wird mit einer extremen Position ins verminte Diskursfeld geschickt (Rentenalter auf 70 erhöhen, Hartz-IV kürzen, Atombomben werfen …) und dann schaut man, wo wie viele Empörungsminen hochgehen, wie stark der Gegendruck ist, pfeift den Hund eventuell wieder zurück und schickt bei passender Gelegenheit den nächsten raus. Wobei der Hund nach außen gescholten („Das war eine unabgesprochene persönliche Einzelmeinung“) und nach innen gelobt wird und zur Beförderung ansteht, wg. persönlichem Mut vor dem Feinde. Ich weiß nur, dass das Krisendauerfeuer mich einerseits abstumpft, andererseits natürlich Wirkungstreffer erzielt, quasi hinter meinem Rücken, feilt es an meinem Gemüt. Da gilt es genau hinzugucken. Stumpft das an anderen Stellen auch ab, macht unempfänglich für Impulse, Anregungen, Kreativität. Zerrt es an den Nerven? Tut es. Wo begrenzt es die Phantasie? Ist es noch möglich, mir Normalität vorzustellen? Wie soll die aussehen? Wann und woher soll die kommen?
Das Virus jedenfalls geht nicht nur nicht weg, sondern wird ein aerosoliger Begleiter sommerlicher Cocktails. Sommerpause Fehlanzeige, bevor es dann krachend in die Winterlockdowns geht, dann aber mit Impfpflicht. Langsam geht mir sogar der Zorn auf Impfverweigerer, Corona-Antisemiten und Verschwörungsfantasten aus. Ermattung allenthalben.
Morgen wird die Linke aus dem Saar-Landtag gekegelt, viel interne Idiotie dabei, aber auch stellvertretend für den allgemeinen Niedergang linker Utopien. Und damit meine ich bestimmt keine rotgrünen 100-Euro-Einmalzahlungen-Reförmchen.
Autonome Basisbewegungen sind nicht zuletzt an radikalen Differenzen zur Einschätzung der Corona-Krise in den letzten zwei Jahren über den Jordan gegangen. Auf unabsehbare Zeit, so wie das Virus. Auch und gerade unter undogmatischen Linken gibt es hanebüchene, fast immer antisemitisch konnotierte Verschwörungserzählungen. Beispiel: The Great Reset Plumper Vulgärmarxismus, gemischt mit faschistischem Anti-Eliten-Duktus. Erinnert mich an früher, wo die Kapitalisten in einschlägigen linken Comics mit dicken Bäuchen, Bowler-Hut, Stresemann-Anzug und dicken Zigarren gezeichnet wurden, obwohl schon zu der Zeit der schlanke, alerte, nichtrauchende, fitte Manager der Phänotyp des Kapitalismus war.
Ich erinnere mich überhaupt häufiger an früher. Kein gutes Zeichen.
Und wo bleibt das Positive? Als ich eben von meiner morgendlichen Zen-Meditation aus dem Garten zurückkam, wehte der Westwind von den nahegelegenen Feldern einen intensiven Güllegeruch um meine Nase. Das hatte etwas Beruhigendes, Geerdetes: Die Welt da draussen nimmt ihren normalen Gang der Jahreszeiten, unbeirrt vom Schlachtenlärm.

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