13.11.2022 – Ihr naht euch wieder, schwankende Gestalten.


Ihr naht euch wieder, schwankende Gestalten,
Die früh sich einst dem trüben Blick gezeigt.
Versuch ich wohl, euch diesmal festzuhalten?
Fühl ich mein Herz noch jenem Wahn geneigt?

Nein. Tu ich nicht. Eher empfand ich den nächtlichen Anblick auf der Tauentzienstrasse in Berlin als subtile Horrorgestalt, aus einem Buch von Stephen King. Horror ist am wirkungsvollsten, wenn er alltäglich daherkommt und einen Namen hat: In diesem Fall Weihnachten. Der Tauentzien ist die Haupteinkaufsstraße von Berlin, noch vor dem Kudamm. Hier liegt auch das KaDeWe, welches ich ab und zu frequentiere wegen der unvergleichlichen Feinkostabteilung, wo es alles zu kauen und schlucken gibt, was Herz und Leber aller Neureichen der Welt, die Berlin gerade in der Vorweihnachtszeit mit ihrer bloßen Existenz verpesten, erfreut. Meins auch.
Und insofern prallen im KaDeWe Kulturen aufeinander, nämlich meine und die der Geschilderten. Und wie oft, wenn Kulturen aufeinanderprallen, entsteht dabei kein sinnvoller, befruchtender Austausch, was eine Wunschwahnvorstellung von universitären Elfenbeinturmintellektuellen und Politikerinnen aus Szenevierteln ist, die sich die Welt so malen, wie sie sie gerne hätten, sondern nackter Hass.
In dem Fall bei mir. Angesichts der langen Schlangen von Russ*innen, die sich vor den Shop-in-Shop Luxusläden dort wie Prada, Luis Vuitton, Versace etc. bildeten. Die bringen regelmäßig vor Weihnachten neue Kollektionen raus und alles, was keinen Geschmack und Geld hat für Taschen zu 3000 Euro oder eine gesteppte Bomberjacke für 10.000 Euro, stellt sich da brav an.
Natürlich gibt es im KaDeWe auch Schwarze. Ich hab selber einen gesehen. Der tauschte die Mülleimer da aus.
Dass in mir ungutes Gefühl hochquoll angesichts dieser Anblicke, ist ebenso unzivilisiert wie verständlich und auch sinnvoll. Natürlich galt mein ungutes Gefühl auch neureichen Ukrainer*innen dort, aber dafür reichten meine Sprachkenntnisse nicht aus, um das zu differenzieren. Selbstverständlich hab ich mich auch in die Schlange gestellt, um die Sprachen dort zu hören. Einfach nur dem Äußeren nach zu urteilen, wäre ein disqualifizierender
rassistischer Reflex.
Sinnvoll war die Erfahrung im KaDeWe insofern, als Emotionen als notwendige Voraussetzung für die Bildung politischer Einstellungen unabdingbar sind, sofern sie kritisch reflektiert werden. Mit Büchern und Theorie kriegen Sie höchstens eine hauchdünne zivilisatorische Lackierung über Ihren alten Adam, die Eva sowieso. Also der Weg zum Klassenkampf führt notwendig durch das KaDeWe und hinterher in die Feinkostabteilung, Sekt verklappen.
Für alle Bildungsvollpfosten: Das Gedicht oben ist nicht von mir, sondern von Goethe.

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