11.07.2023 – Zeitreisen

Seeterrassen, Tegeler See, Berlin. Ikonische Scheusslichkeit der 70er. Der ganze Kiez am See, Alt-Tegel, atmet den Geist der 70er im Westen. Ich saß am See, schaute aufs Wasser, den Ausflugsdampfern und Tretbooten nach, eine sanfte Brise fächerte meiner schweissnassen Stirn Kühlung zu und ich spürte angesichts der Szene ein wehmütiges Ziehen in der Brust, eine Sehnsucht nach dem verlorenen Paradies jüngerer Jahre. Das es so nie gab, nur eine Imagination. Umso schlimmer.

Tags zuvor eine völlig andere Reise in die Vergangenheit

Gärten der Welt, Marzahn, Ostberlin. Futuristischer Geist der Achtziger, die Bühne gemahnt an einen Adler, der seine kühnen Schwingen ausbreitet, oder an ein Ufo, je nach Phantasie . Die Gärten der Welt sind ein ganz zauberhaftes Ensemble von chinesischen, japanischen, koreanischen, italienischen etc. Gärten aus aller Welt , mitsamt Bühnen für Konzerte, das die DDR Ende der 80er ihren Insassen mitten in die Hochhäuser von Marzahn stellte, ein Stück unerreichbare Aussenwelt zum probieren. Schwerer Fehler. Das undankbare Pack wollte alles, nicht nur schnuppern, und kurze Zeit später war die DDR Geschichte. Und die einzigartigen Gärten der Welt, sogar mit Seilbahn, kennt kaum ein Schwein mehr.

Man hat der Ostzone in letzter Zeit häufiger mangelnde Dankbarkeit vorgeworfen, nachdem die sich zunehmend der faschistischen Variante bürgerlicher Herrschaft zuwandte. Ein alberner Vorwurf. Als ob Dankbarkeit eine im Kapitalismus nützliche Tugend wäre, wo es nur um drei Dinge geht: Profit. Profit. Profit. Wofür sollen die Zonis dankbar sein? Bananen und Pornos? Schon eine Reise nach Mallorca können sich Leute aus dem Landkreis Sonneberg, die unlängst einen Faschisten zum Landrat wählten, nicht leisten, die zu 44 Prozent im Niedriglohnsektor arbeiten. Wofür soll eine arbeitslose Alleinerziehende drüben dankbar sein? Dass, anders als in der DDR, keine Infrastruktur zur Vereinbarkeit von Familie und Beruf mehr existiert?

Ich werfe den Neonazis da drüben eine Menge vor, fast alles. Aber keine mangelde Dankbarkeit. Das ist eine vormoderne, höfische Tugend, wie Höflichkeit und andere. Die später, vom aufkommenden, auf Distinktion bedachten Bürgertum verfeinert wurden, um sich gegen den Pöbel abzusetzen. Aber was zum Teufel wollen Sie im Kapitalismus mit Dankbarkeit anfangen? Wer sowas vorwirft, verrät nur eines: mangelnde Bildung und Unfähigkeit zum dialektischen Denken.

Ich muss los. Mit dem Klapprad auf Zeitreise. Das ist eins von vielem Schönen an Berlin, hier können Sie dauernd auf Zeitreisen gehen – in einem Grosslaboratorium, in dem unsere Zukunft entworfen wird …

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