Oranienstraße in den 70ern.
Hängt bei uns in Kreuzberg in der Küche. Das Ausstellungsplakat zeigt die Kreuzberger Oranienstraße in den 70ern, bezieht sich auch auf den legendären Tunix-Kongress von 1978 und beschreibt irgendwie im weitesten Sinn auch die in der Küche vorherrschende politische Grundeinstellung
Oranienstraße 2023.
Ob sich äußerlich viel verändert hat, liegt im Auge der Betrachterin. Die Republik allerdings ist eine völlig andere und dazu hat der Tunix Kongress wesentlich beigetragen. (Der Tuwat Kongress von 1981 hatte mehr lokalen Bedeutung, richtete sich gegen die Räumungen des Berliner Senats von besetzten Häusern und bildete den Auftakt von jahrelangen Straßenkämpfen, mit den Höhepunkten zur alljährlichen autonomen 1. Mai Hönkelfolklore. Die ihre Spuren sogar bis ins tiefste Hannover hinterließ mit dem Graffiti bei mir umme Ecke im „alternativ“ verschlafenen Stadtteil Linden „Kreuzberg brennt, Linden pennt“.
Der Tunix Kongress war auch die Antwort der undogmatischen Linken auf den deutschen Herbst 1977 , blutig und bleiern, der Höhepunkt der RAF-Anschläge in der BRD und die Reaktion des Staates darauf. Der Deutsche Herbst gilt als eine der schwersten Krisen in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland. Die heutigen Krisen sind völlig anderer Natur.
Man weiß nie, was bei Kongressen, Fachtagen, Aktionen etc. hinten rauskommt, in Fall Tunix war das Ergebnis spektakulär, auf die Dauer gesehen. Der Kongress war der Gründungsimpuls zur flächendeckenden Alternativbewegung in der BRD, mit allen Ausformungen wie Alternativ-Medien (taz), neue Partei „Die Grünen“, neue Frauenbewegung, CSD, Selbsthilfekollektive, Antipsychatriekonzepte etc. pp. Die pfiffigen Linken setzten sich an die Spitze der Bewegung und den Marsch durch die Institutionen in Gang, der sie bis in höchste Staatsämter spülte. Ich hätte demnächst mit anderen einen Termin bei der Landesgruppe der niedersächsischen Grünen im Bundestag, unter anderem mit Jürgen Trittin, ex KB. Im KB, Kommunistischer Bund, waren die Pfiffigeren, die Wendigen, unterwegs und dazu hätte ich Trittin gerne beim gemütlichen Glas hinterher näher befragt. Leider bin ich verhindert. Unter den ehemaligen Mitgliedern des KB sind übrigens im Vergleich zu den dogmatischen Politsekten der damaligen Zeit wesentlich weniger Komplett-Renegaten, mir fällt in der Liste spontan nur der heutige Schwer-Nazi Jürgen Elsässer auf.
Wenn man es vom Ende, also von Heute her, betrachtet, hat dieser – natürlich historisch notwendige – Kongress als Teil des Projektes der Aufklärung die Gesellschaft freier, offener gemacht, hedonistischer, aber in einer Art Rollback-bewegung die Faschisierung der Gesellschaft nicht nur nicht verhindert, sondern sie mit befördert. Diese Ambivalenz-Entwicklung bedarf der Begründung. Dazu später mehr, den das ist ein sehr, sehr weites Feld.
Mir bleibt erstmal das Fazit beim Betrachten des Plakates. Angesichts der dort zu Bild geronnenen Möglichkeit von Freiheit, dem kurzen Aufscheinen einer besseren Welt, umweht dieses Plakat ein Hauch von elegischer Sehnsucht. Aber diese Wahrnehmung liegt im Auge der Betrachterin. Andere mögen sagen: Haben die alle keine Arbeit.
Wie wurde die Republik zu dem, was sie geworden ist? Spurensuche, beginnend in einer Kreuzberger Küche.