19.02.2024 – Der Durchfall

Aus dem Archiv: Leine-Deister-Zeitung, 15.05.2014. Wer arm ist, kann sich keinen Durchfall leisten. Das bezog sich vermutlich auf die Tatsache, dass damaligen Hartz-IV-Bezieherinnen rechnerisch pro Tag eine Viertelrolle Toilettenpapier zur Verfügung stand, was im Durchfallfall schon mal knapp werden kann.

Vor dem Durchfall kommt die Ernährung. Auch da gehen immer tiefere Gräben durch unsere Gesellschaft. Es gibt Millionen, die können sich nicht genug zu essen kaufen, über 2 Millionen gehen regelmäßig zu den Tafeln. Es müssten vermutlich doppelt so viel die Tafeln nutzen, aber die Scham hält viele davon ab. Die Dunkelziffer derer, die Grundsicherung im Alter nicht beanspruchen obwohl ihnen das zusteht, liegt bei 70 Prozent. Nur dadurch spart der Staat ca. 6 Mrd. Euro, die er dann für Panzer ausgeben kann. Insgesamt spart der Staat an Sozialleistungen ca. 20 Mrd. Euro p. a., die aus Scham oder Nichtwissen nicht in Anspruch genommen werden. Wenn das für Panzerabwehrraketen nicht reicht, wird später mal die Grundsicherung gekürzt.

Am anderen Ende gibt es Millionen, für die gehört luxuriöses Essengehen zum must have ihres Alltags, soziale Definition und Distinktion durch die Wahl des Restaurants, jeder Stern pro Person ein Hunderter mehr (was mittlerweile nicht mehr reicht) und der Champagner kommt noch obendrauf. Den Preis braucht man unter seinesgleichen nicht zu erwähnen, man weiß Bescheid, ein Satz wie: „Am Wochenende habe ich endlich mal einen Platz bei (Sternekoch) Tim Raue erwischt“ reicht.

Es ist nicht nur die materielle Spaltung in der Gesellschaft, die die Demokratie zunehmend delegitimiert. Es ist eine auf allen Ebenen, auch auf kommunikativer. Wo sollen sich die hier genannten Personen zu „herrschaftsfreier Kommunikation“ begegnen? Und worüber sollen sie kommunizieren? Die Einen über den schlechten Service bei Tim Raue, wo ein Meursault um 0,7 Grad zu warm serviert wurde und die Anderen über menschenunwürdige Behandlung bei den Tafeln, wo das Personal schon mal seine Macht über die Hungerleider ausnutzt und übergriffig wird?

Wenden wir uns der bessersituierten Mitte der Gesellschaft zu, für die Kochen und gutes Essen zum Religionsersatz geworden ist, die Wahl des Küchenmessers eine auf Leben und Tod, der neueste Ess-Trend das Glaubensbekenntnis und ein abendliches Mahl mit Gleichgesinnten das Hochamt. Einziger Unterschied: es findet kein carnivorer Kannibalismus wie in der Messe mehr statt, bei dem Leib und Blut von Jesus in Form von Hostie und Wein weggemampft wird, es geht Quinoamässig vegan zu.

 Vom Diätwahn gar nicht zu reden. Für Diätlebensmittel geben die Deutschen jährlich über 2 Mrd. Euro aus, dazu kommen Bücher, Kurse, Fitnessgeräte und Studios etc. pp. Nur, um länger (gesünder?) zu leben. Aber wie.

Es gibt ein einziges Mittel, das nicht nur umsonst ist, sondern Geld spart, mit dem das Leben signifikant bis zu 40 Prozent verlängert wird und das mit weniger Krankheiten: Mäusen, denen man durchgängig 40 Prozent weniger Nahrung als der normalessenden Mäusevergleichsgruppe gibt, leben 40 Prozent länger. Einzige Bedingung: Ausreichend Vitamine und Mineralstoffe. Im Gegensatz zu den normal Mampfenden waren sie am Ende auch nicht großartig krank. Sondern einfach nur tot. Da wir 99 Prozent der Gene mit Mäusen gemein haben, liegen Analogien auf der Hand. Die meisten Gene haben übrigens Wasserflöhe. Nutzt ihnen auch nicht viel, die leben keine drei Monate.

Lebensverkürzend und für viele die Ausgeburt der Ernährungshölle. Für mich alle Wochen mal der heilige Gral der Köstlichkeit. Kostet mit diverser Bierbegleitung (und Rostocker, aber der geht aufs Haus) 16 Euro. Bei Tim Raue sind Sie mindestens mit dem Faktor 20 dabei. Ob im Genuss auch, sei mal dahingestellt.

Mahlzeit.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert