
Die Neunziger. Von Jens Balzer, u. a. Autor für DLF und Rolling Stone, der unter anderem mit Dietmar Dath und Sibylle Berg kooperierte (für Eingeweihte ein Qualitätsnachweis). Das Buch schildert mit starken popkulturellen Bezügen die Entwicklung der Neunziger vom Fall der Mauer bis zum 9/11-Anschlag auf das World Trade Center, von der Hoffnung auf ein neues Zeitalter der Freiheit, mit revolutionären Technologien wie dem aufkommenden Internet und weltweiter Digitalisierung bis zur Enttäuschung durch aufkommenden Nationalismus, Kriege in Europa (Jugoslawien) und den grenzenlosen Sieg eines hemmungslosen Neoliberalismus. Der Soundtrack dazu ist Techno, der sich seinen Siegeszug aus den räudigen Kellern des vereinigten Berlins in die ganze Welt bahnte . Paradigmatisch für die Zeit steht die Loveparade in Berlin, zu Beginn ein avantgardistisches, charmantes Spektakel von ein paar Idealisten. Am Ende Millionen durchgeknallter Drogenfreaks im zugedröhnten Konsumrausch, die den ganzen Tiergarten vollschissen.
Das Buch ist kenntnisreich, mit jeder Menge Erinnerungspretiosen, unprätentiös, aber unterhaltsam und gut geschrieben. Wer wissen will, wie unsere Gesellschaft so wurde, wie sie ist, findet hier jede Menge Futter. Und je nach lebensgeschichtlicher Verortung Rückbesinnung und Vergewisserung eigener kultureller Prägungen. Aus dem Alter für Techno war ich raus, aber unvergesslich ist mir mein Brechreiz angesichts eines riesigen Heeres von Deutschlandfahnen nach dem Fußball-WM Titel 1990. Damals war ich noch Fan des reinen Spiels, hasste aber natürlich jede Form von Nationalismus. Wer auch nur ein zweiseitiges Geschichtsbuch gelesen hat, weiß: Nationalismus ist immer ein Anfang von einem bösen Ende. Da kommt niemals was Gutes bei raus. Folgerichtig brannten ab da überall Flüchtlingsunterkünfte, Ausländerwohnungen und Asylantenunterkünfte. Hier zur Erinnerung das Pogrom von Rostock-Lichtenhagen . Die Lektüre sollte allen, die sich Illusionen darüber machen, was heutzutage nicht mehr möglich sei, die Augen öffnen. Alles worüber wir denken können, wird möglich, auch wenn es nicht real werden muss. Die Bedrohung von Grünen durch Bauernmob am Aschermittwoch ist nur ein erster zarter Schritt.
Ich habe diesen ganzen „Das Ende der Geschichte“-Quatsch und „Alles wird Frieden, Freude, Eierkuchen“ von Anfang an für ideologischen Unsinn und zweidimensionale Verblendung gehalten. Hier eine Aktion des famosen Kunstkollektivs SCHUPPEN 68 (Gruß an Peter, unser damaliges Darsteller-Genius und treuer Blog-Leser. Das erste Bier im Hades geht auf meinen Deckel!) vom Reichseinheitstag, dem 3. Oktober, 1990. Im damaligen hannöverschen Stadtmagazin Schädelspalter.

03.10.1990! Interessant, dass ich das Archiv-Fundstück mit Schreibmaschine (!) verschlagwortet habe. Für die Generation Internet und Smartphone ein ähnlich unvorstellbares Arbeitsgerät wie Fax, Kabeltelefon und Tonbandkassette, noch vor der Diskettenzeit. Es gibt übrigens keine Popgruppe mit dem Namen „Diskette“. Unglaublich.
In der Aktion ist alles drin: Völkischer Nationalismus, grenzenloser Kapitalismus bis zum Organhandel, Minderheitenhass, Rassismus. Genial, wenn Sie mich fragen. Aber leider hat mich schon damals kaum jemand gefragt. Wir waren denn doch zu (links)radikal, avantgardistisch und dadaistisch, der Zeit um Äonen voraus
Das Buch hat einiges bei mir getriggert. Empfehlenswert. Est ist der dritte Band, nach den 70ern und 80ern, einer Reihe des Autors über eine Annäherung an die Gegenwart .
Und nun zum Wetter …
Ich entschuldige mich aufrichtig für diesen Kommentar! Aber ich teste einige Software zum Ruhm unseres Landes und ihr positives Ergebnis wird dazu beitragen, die Beziehungen Deutschlands im globalen Internet zu stärken. Ich möchte mich noch einmal aufrichtig entschuldigen und liebe Grüße 🙂