
Gesehen an einer Kneipe in Hannover-Linden. Vom soziologischen Typus her eine der letzten zwei Kneipen in diesem Kiez, in der eher Angehörige des Prekariats verkehren. Es gibt in diesem ehemaligen Arbeiterviertel noch eine Kneipe, die man früher Arbeiterkneipe genannt hat. Sonst nur unzählige Szenekneipen.
Vor vielen Jahren gab es hier auch noch eine Kneipe, eher Restaurant, des gehobenen hiesigen Bürgertums: Der Ratskeller. Die Kellner trugen Westen und typische Speise war der Filettopf mit Rahmchampignons. Typische Speise in den damals ungezählten Arbeiterkneipen hier, Treffpunkte des Facharbeiteradels der SPD-Ortsvereine und Gewerkschaftskungelrunden: Bauernfrühstück. In den Kneipen des Prekariats, Marx hätte gesagt: klassenloses Lumpenproletariat, gab es keine Speisen, und Formen organisierter Kollektivität fanden hier nicht statt. Auf meinen früheren sozioethnologischen Exkursionen durch die hiesige Kneipenlandschaft stand mein Urteil nach nur einem Rundblick auf Interieur und Personal fest, im Falle der Prekariatskneipen lautete es stets: Danach kommt nur noch die Parkbank.
Tatsächlich trinkt im Freien, im Umfeld von Kiosken, Büdchen, Spätis, mittlerweile auch Supermärkten, wer sich Kneipen nicht mehr leisten kann. Oder noch nicht, wie die Myriaden unzähliger Studis, die hier schlimmer als Heuschrecken einfallen, zum nächtlichen Vorglühen die Kioske auf dem hiesigen Boulevard leer saufen und Hauseingänge vollpissen. Dann gibt es Outdoor noch gemischte Säufer/Kifferszenen, die sich eher halböffentlich aufhalten, wo Sträucher etc. Sicht und polizeiliche Kontrolle verdecken. Und die Elendsszenen, mit immer mehr Abhängigen harter Drogen, obdachlos in Zelten, oft in der Nähe von Orten, wo Beratung, Betreuung und Substitution stattfindet.
Früher waren Kneipen und Orte informeller kollektiver Treffen (z. B. Arbeitslose in der Schlange vor dem Arbeitsamt) auch Möglichkeiten und Ausgangspunkte politischer Organisation und Gegenwehr. Nicht umsonst waren sie in totalitären Systemen (nicht nur da) Ziel geheimdienstlicher Kontrolle, als Seismographen der Stimmung im Volk. Mit dem Verschwinden der hier genannten Orte, und dem massenhaften Aufkommen von Prekarität und öffentlichem Elend, geht einher auch das Verglimmen von Diversität kollektiver und damit politischer Organisation. Mit der Konsequenz einer grundlegenden Veränderung der psychosozialen Verfasstheit von Individualität. Brutalität statt Solidarität.
Nicht zu vergessen in dieser Aufzählung natürlich Treffpunkte jenseits der Heteronormativität wie das hiesige „Barkarole“, heute eine „Schlagerkneipe“.
Angesichts dieses kurzen, unvollständigen Trips in die Kneipenkulturgeschichte halte ich die These für gewagt, dass unsere Gesellschaft immer diverser geworden sei. Ich glaube, ihre vereinzelten Mitglieder krakeelen nur lauter rum und die Tatsache, dass alle auf allen Kanälen blöken „Ich bin aber anders als alle anderen“ ist eher der Beweis für das Gegenteil.
Demnächst ist mal wieder ein Kneipenbesuch fällig. Siehe oben, sozioethnologische Exkursion. Früher nannte man das Zechgelage.