Der Hippie-Bulli von VW. In der Dauerausstellung „Iconic“ im VW-Museum in Berlin, Unter den Linden. Ortsunkundigen Berlin zu zeigen macht im Normalfall nicht nur Spaß, sondern fördert auch den eigenen Erkenntnisgewinn. Man sieht die Stadt durch andere Augen, denen der Fremden, begibt sich an eher offiziell-touristische Orte, die man sonst nur quert und entdeckt Neues, was früher ignoriert, übersehen wurde. Den Prachtboulevard Unter den Linden mit all den Prunkbauten der Geschichte Berlins und Preußens nutze ich sonst nur zum Durchradln, wenn überhaupt, heuer aber nahm ich auf Führerwegen das erste Mal dort das offizielle VW-Museum wahr. Das natürlich nicht so altbacken heißt. Sondern irgendwas mit „Iconic“. Darunter geht heute nichts mehr. In dem Fall trifft es aber zu.
Eine überwältigende, emotionale Präsentation ikonischer Objekte, Relikte, Ereignisse aus allen Jahrzehnten seit Gründung der BRD, aus den letzten 75 Jahren – siehe GGG, Geburtstag Grundgesetz – wie obiger 68er Hippie Buli, ein C-64 Commodore von 1982, eine Polaroidcamera von 1972, eine kolorierte TV-Fassung des WM-Endspiels von 1954, ein VW-Käfer aus den 50ern, großartige Gemälde von Jackson Pollock oder Anselm Kiefer und das absolut auf der Höhe der Präsentationstechnik. Der digitale Loop zu „Innovation“ auf drei Seiten eines Präsentationsraumes auf ca. je 5 x 30 Meter hatte eine rauschhafte Sogwirkung. Sowas hab ich in einem echten Museum noch nicht gesehen.
Ist ja auch logisch. VW verkauft wie jeder Autoklempner keine austauschbaren Blechkisten auf der Basis einer ausgelutschten, umweltverseuchenden Dinosaurier-Technik namens Verbrenner- oder meinetwegen auch E-Auto, sondern Emotionen. Sonst kauft doch kein Trottel mehr diesen Schrott. Im vorliegenden VW-Fall identifiziert sich der Konzern nicht ganz zu Unrecht gleich mit der kompletten BRD-Siegesgeschichte, verkauft beides, Konzern und Staat, als kongruenten grandiosen Erfolg und Versprechen für eine glorreiche, mobile, innovative Zukunft. Pfeifen im Walde, aber so gut gemacht. Eintritt? Ich bitte Sie, ist für lau, soviel Gemeinsinn liegt noch im Werbeetat. Als i-Tüpfelchen kann man sich dort in bebilderten Hörinseln Hits aus den jeweiligen Jahrzehnten auswählen. Ich plauderte aufs Kurzweiligste mit einem beseelt dreinblickenden Engländer, der gerade Honky Tonk Women von den Stones aus dem Jahr 1969 gehört hatte: „My music“.
Draußen vor der Tür (1947 ) ereilte mich eine WhatsApp aus der Homebase: „Schlimmes passiert …“.
To cut a long sory short: Die Investorengemeinschaft, die unser Wohnhaus in Kreuzberg vor einiger Zeit von einer Erbengemeinschaft gekauft hatte (ein BRD-Klassiker), hatte den Vertrag des Hausmeisters gekündigt. Er kann die Wohnung im Haus behalten, muss aber jetzt ein paar Hundert Euro mehr Miete zahlen. Der Mann ist Handwerker, Alleinverdiener und das Paar hat sieben Kinder. Das ist für ihn unbezahlbar, eine bezahlbare Ersatzwohnung findet er vielleicht in der Steppe Mecklenburg-Vorpommerns, kommt von da aber mangels Auto nicht zur Arbeit. Eine lebensgeschichtliche Zäsur, besser: Katastrophe.
Mir schien, dass sich in Teilen der Hausgemeinschaft, die sich sommerlich vor der Kneipe im Haus versammelt hatte, eine gewisse Erleichterung breit machte, als sich herauskristallisierte, dass „nur“ der Hausmeistervertrag betroffen war und nicht die Wohnung dazu. Eine gekündigte Wohnung wäre eine sofortige, massive Bedrohung für alle Parteien gewesen: Deine Wohnung kann die Nächste sein! Die Mieten in unserem Haus sind teilweise für Kreuzberger Verhältnisse grotesk günstig, normal ist in der Gegend zwischen zwei der angesagtesten Berliner Quartiere Möckernkiez und Bergmannkiez mehr als Dreifache fällig, nach oben keine Grenze. Es gibt einen niedrigschwelligen Sozialraum direkt im Haus, einen türkischen Imbiss, der WG-intern Hades heißt und als Kontakt- und Austauschbörse seit vielen Jahren funktioniert, die Anbindung an den ÖPNV ist glänzend, jegliche Infrastruktur beispielhaft vorhanden, wer so in Berlin wohnt, hat keinen Sechser in der Wohnlotterie gezogen, sondern einen Siebener.
Das findet dort niemand wieder nach einem Wohnungsverlust. Das spüren alle. Dagegen gibt es bei allen Kündigungsfristen und Milieuschutzregelungen keinen finalen Schutz. Und so herrscht eine wachsende nervöse Stimmung dort. Alle wissen: Dieses Mal ist es “nur“ der Hausmeisterjob. Aber was kommt als nächstes?
Diese und andere Ängste im entfesselten neoliberalen Kapitalismus sind die Grundstimmung am 75. Geburtstag des Grundgesetzes und ich gehe keine Wette auf den 100. ein.
Aber eins ist sicher: Demnächst bin ich wieder beim Pfeifen im Walde, bei VW: Wenn schon die Aufführung, der Kapitalismus, Scheiße ist, so ist die Musik, das Pfeifen, doch grandios.