17.01.2018 – Warum ich manchmal nicht alle Tassen im Schrank habe, mein Freund der Klempner und der Tod der SPD

arbeitsamt
Erwerbslosendemonstration Anfang der 2000er vor dem damaligen Arbeitsamt in Hannover.
Bei einem Expo 2000 Job als Projektleiter hatte ich so viel Kohle verdient, dass ich mir ein paar trübe Winter lang an der Algarve oder ähnlichen Meeresgestaden die Falten aus dem Bauch hätte klopfen und an meinem Opus Magnum weiterarbeiten können, einem fulminanten Wälzer über die Dreifachmoral der postbürgerlichen Gesellschaft. Stattdessen fing ich als Sozialarbeiter bei einem Bildungs- und Beschäftigungsträger an, der Werkstatt Hannover. Manchmal habe ich offensichtlich nicht alle Tassen im Schrank. Die Werkstatt Hannover war selbst für die Verhältnisse einer SPD-Hochburg Hannover derartig kriminell mit Genossenfilz durchzogen, dass die Kriminalpolizei ermittelte, es zu diversen Strafverfahren kam und der Laden dichtgemacht wurde. Ich war Arbeit los, hatte von bürgerlicher Erwerbsarbeit erstmal die Schnauze voll, so viele Tassen hatte ich dann doch noch im Schrank, und tat das, was zu tun ist: Basisarbeit, mit einer Erwerbsloseninitiative. Es war die Zeit, als der Untergang der SPD am Horizont aufschien, Gerhard Schröder drückte in einem bis heute in der deutschen Parteienlandschaft beispiellosen Top-Down Prozess die Agenda 2010 durch („Agenda“ ist Latein und heisst: was zu tun ist).
Ich gründete die HALZ, die Hannöversche Arbeitslosen Zeitung, mit anderen, um die herum sich regionaler Basiswiderstand gegen die Agendapolitik organisierte. Wir verteilten die HALZ, die skurrilerweise immer noch im Netz ist, bei Wind und Wetter morgens vor dem Arbeitsamt, wenn zig Leute auf Einlass warteten und organisierten Demonstrationen vor dem Gebäude. Das Schöne an der Sache: Es engagierten sich nicht nur Rest-Revoluzzer, die gerne mal vier Seiten lange Flugis mit wirrem Zeug vollkleisterten, Schriftgröße Punkt 10, sondern ganz normale arbeitslose Facharbeiter, Angestellte, Frührentner.
Ich hatte mich an der Uni theoretisch mit der Geschichte sozialer Bewegungen auseinandergesetzt und ahnte, dass der Paradigmenwechsel der SPD als Teil der Arbeiterbewegung hin zur asozialen Agenda 2010 nicht gut ausgehen würde für diese Partei. Darüber empfinde ich nicht nur keinen Schimmer Schadenfreude sondern angesichts der in Rede stehenden Alternative den schleichenden Tod der SPD als Desaster.
Zur Gewissheit wurde die Ahnung in einem Gespräch mit einem Neuankömmling der Erwerbsloseninitiative, einem Klempner. Der sagte zur Schröder Politik:
„Sowas macht man nicht. Das ist unanständig.“
Der Klempner war kein Mann großer Worte, er hatte einfach ein tief verankertes Gefühl für Gerechtigkeit, eine ethische Grundierung. Er diskutierte auch nie viel, er sagte nur:
„Hört auf zu labern, wir müssen raus, an die Öffentlichkeit.“
Und wenn jemand bei Demos 5 Minuten zu spät kam, faltete er ihn gnadenlos zusammen.
Heute ist der Klempner Rentner und die meiste Zeit des Jahres mit seiner Frau an südlichen Meeresgestaden, klopft sich die Falten aus dem Bauch. Wenn er wieder Zuhause ist, ruft er an und wir treffen uns auf ein Getränk. Wir sind seit Jahren Freunde.
Währenddessen nimmt die Tragödie der SPD ihren Lauf. Es ist die klassische Theatersituation der 2500 Jahre alten griechischen Tragödie: Die Partei kann machen, was sie will, das Schicksal wendet sich gegen sie. An einer bestimmten Stelle in der Handlung auf der Bühne ist der Akteur vor die Wahl gestellt, sich zu entscheiden. Danach gibt es kein zurück. Die SPD hatte damals die Wahl, sie hat sich für die Agenda 2010 entschieden. Aber, siehe Klempner:
„Sowas macht man nicht. Das ist unanständig.“
Zur Erinnerung: Ein Facharbeiter, der in den 90ern arbeitslos nach 35 Jahren Arbeit wurde und eine Lebensversicherung und kleines Vermögen besaß, Standard in der alten Facharbeiter-BRD, kriegte damals im Normalfall kaum noch Arbeit, aber dauerhaft ca. 50 % Arbeitslosenhilfe, was knapp armutssicher war, und durfte sein kleines Vermögen behalten.
Nach der Agenda 2010 kriegte er Hartz IV, gleichbedeutend mit Armut, war sein Vermögen los, im Zweifel auch seine Wohnung, wenn sie zu groß war, und musste jeden Job annehmen, der ihm angeboten wurde.
Konsequenzen: Die Angst vor der Vernichtung der bürgerlichen Existenz ist flächendeckend in der Mitte der Gesellschaft angekommen, die AfD wird die SPD als Partei der kleinen Leute ablösen und ich werde es meinem Freund, dem Klempner, irgendwann nachmachen und mir an den Gestaden des Mittelmeeres die Falten aus dem Bauch klopfen.
Und in aller Ruhe die Tassen in meinem Schrank nachzählen.

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