17.09.2019 – Flanierende Geschlechtsteile


Drangvolle Enge am ehemaligen Hippie-Strand Mirtiotissa auf Korfu. In den 70ern und 80ern Zufluchtsort von Hippies der ganzen Welt – siehe auch Valle Gran Grey auf Gomera, San Carlos auf Ibiza oder Goa in Indien. Eine Liste bekannter ehemaliger Hippiespots ist beim Reiseführer Marco Prolo einzusehen. Und mehr muss man dazu nicht sagen. Wenn in allen Reiseführern der Welt steht: Mirtiotissa Beach Geheimtipp! drängeln sich natürlich sofort Milliarden von Frieda und Otto Normalverbraucherin da.
Besagter Mirtiotissa ist klein und hat wie viele Strände der Welt erheblich an Sand verloren. Da ich normalerweise nur in der Zeit von Spätoktober bis Frühapril im Süden bin, um Hitze und Fülle zu entgehen, hatte ich die Fülle dort völlig unterschätzt. Hat man im Spätherbst dort Platz und Ruhe, war es heuer im Frühseptember so drangvoll eng, dass es für einen Witzfilm gereicht hätte, wäre ich nicht für einen Nachmittag mitten drin gewesen. Unglücklicherweise ist das einer der wenigen Strände auf Korfu, wo Nacktbaden möglich ist und sobald ich, auf dem Rücken liegend, die Augen geöffnet hatte, wurde ich Anblicken von flanierenden Geschlechtsteilen direkt über, neben, vor oder hinter mir ausgesetzt, die ich so niemals haben wollte und bei denen ich nur beten kann, dass sie mich niemals in Alpträumen einholen. Von dem haut(!)nah vorbeiwogenden Meer von Ärschen, Titten und Bäuchen schweigt des Sängers Höflichkeit. Es war alles so distanzlos, wie das die ganze Welt heute ist. Ich wurde binnen kurzem unruhig, aggressiv und Misanthrop und wünschte den Hippies post mortem Pest und Cholera an den Hals, hatten sie doch durch ihre Trüffelschweinfunktion diesen an sich zauberhaften Ort der Welt erschnüffelt, umgegraben und konsumfähig gemacht.
Bevor ich ein Kettensägemassaker an diesem an Gemälde von Francis Bacon (dem es wie mir immer um die innere Natur des Menschen und nicht den äußeren Körper geht) gemahnendem Vorort der Hölle anrichten konnte, riss ich mich am Riemen und entfloh. In der Nähe gibt es einen ehrlichen Touristenstrand mit Viersternehotel, Strandbars, ordentlich besucht, aber jede Menge Platz und Distanz. Da ich mich ein bisschen auskenne, tapste ich 50 Meter weiter und fand hinter einer Felsnase eine namenlose Bucht, in der niemand lag.

Niemand da, nur mein Rucksack und ich.
Nun bin ich nicht so naiv, den Herdendrang des Menschen zu unterschätzen. Obwohl der Mensch des Menschen Wolf ist, seinen Nächsten hasst wie die Pest, vor allem Nachbarn, Verwandte und Kollegen, sucht er doch ständig die Nähe des Anderen in Massen, sei es im Stau, im Sommerschlussverkauf oder im Urlaub. Ob das ein angeborener genetischer Defekt ist, der die Spezies Mensch letztlich leider Darwins zur „Krönung“ der Evolution gemacht hat, weiß ich nicht. Interessant wird die Geschichte allerdings bei der Frage, warum der Mensch auch heute, im Zeitalter vorgeblicher Individualisierung und Selbstinszenierung des vermeintlich einzigartigen „Ich“, immer wieder das Verschmelzen mit der Masse sucht.
Die Bindungskräfte von Kollektiven wie Gewerkschaften, Parteien, Kirchen, Verbänden hat der Neoliberalismus erfolgreich zertrümmert, um das „Ich“ dem grenzenlosen Konsum (oder dem Untergang) zuzuführen. Und auch wenn der Mensch sich zusehends asozial verhält (das allgemeine Blabla der bösen sozialen Medien und des Internet wollen wir hier erst gar nicht anfangen) ist er doch noch ein soziales Wesen. Blöd nur, dass er in der ausgesuchten Masse nicht das Kollektiv seiner Klasse vorfindet, also „Klassenbewusstsein“ entwickeln könnte, sondern eine wie auch immer geartete „Identität“. Und das in zusehends fragmentierten diversen Gemeinschaften dutzender benachteiligter Minoritäten, von sexuell Diskriminierten über Abgas-Geschädigte hin zu Kleingärtnerinnen.
Jeder eine benachteiligte Minderheit. Mit sowas kann man keine Revolution machen. Nur Urlaub.

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