02.10.2019 – Erkältungen hatte jeder, aber wer ist schon mal mit der Titanic untergegangen?!


Sommerabend-Stimmung am Meer, keine zwei Wochen her. Hier dagegen morgens im Garten war mein weißer Atem zu sehen. Das sind diese kleinen Zäsuren im Jahr, die nicht für gute Laune sorgen. Außerdem bin ich verschnupft, äußerlich, und hier gilt: Wenn Männer auf eine Erkältung stoßen, ist das ein ähnlich episches Ereignis, als wenn die Titanic auf einen Eisberg trifft. Episch zumindest für die Männer und die Titanic. Mit dem Unterschied, dass noch niemand auf die Idee gekommen ist, meine Erkältungen zu verfilmen. Was ich für eine grobe Ungerechtigkeit halte, schließlich wäre ein Dreistunden-Epos über meine Erkältung ein Griff mitten ins Leben, mit dem sich jeder identifizieren kann. Erkältungen hatte jeder, aber wer ist schon mal mit der Titanic untergegangen?!
Innerlich bin ich natürlich auch verschnupft, wie jedes Mal, wenn sich der Jahrestag der Annexion der Ostzone nähert. Ich freu mich schon auf meinen Blutdruck, wenn ich Morgen bei den Annexionsfeierlichkeiten in Berlin abhänge. Normal ist mein Blutdruck morgens im Keller und um auf Betrieb zu kommen, bräuchte ich eigentlich immer ein Glas Crémant zum Frühstück. Das erledigt leider immer die Zeitungslektüre, danach bin ich meist so in Brast, dass ich ein Glas Portwein in der Morgensonne brauche, um wieder ins Lot zu kommen. Morgen brauche ich das alles nicht, wenn ich durch Berlin flaniere, immer mit dem Gedanken im Kopf: Ihr seid vielleicht ein Volk.
Ich lese gerade das Buch „Der deutsche Goldrausch – Die wahre Geschichte der Treuhand“ des mehrfach ausgezeichneten Journalisten Dirk Laabs. Dort wird minutiös und Faktenorientiert geschildert, wie innerhalb weniger Monate das westdeutsche Kapital die Ostzone bis aufs Hemd ausgeplündert und deindustrialisiert hat, während Runde Tische, Sozis und evangelische Pastoren voll guten Willens noch über eine glorreiche, gerechte Zukunft Kaffeekränzchen abhielten. Nicht, dass ich Zonen Gabi und dem Rest den Kladderadatsch nicht gönnen würde. Mich ärgert unter anderem nur, wie dreist die Öffentlichkeit auch nach 30 Jahren belogen wird über die realen Prozesse. Es bricht zwar an den Rändern auf. Wenn Politiker weise das Haupt wägen und jetzt sagen, es ist nicht alles glücklich gelaufen damals, was immer öfter zu hören ist, heisst das decodiert nichts anderes als: Die Einheit war eine komplette Katastrophe, deren Konsequenzen ähnlich wie bei der Klimakatastrophe uns jetzt beginnen um die Ohren zu fliegen, aber wenn wir dem Volk – der Begriff „Volk“ allein bringt mich schon auf 180, von da bis völkisch ist es nur ein Wimpernschlag – reinen Wein einschenken, können wir uns gleich die nächste Laterne aussuchen.
Dann lieber so, wie mit der heroischen Aufarbeitung des Faschismus, wo man nach 70 Jahren anfing, mit Löwenmut den letzten lebenden KZ-Kapos Prozesse zu machen.
Ich freue mich also auf einen Bundestag-Untersuchungsausschuss, der die wahre Geschichte der Treuhand und der Annexion der Ostzone (das wird dann offiziell so genannt werden, glauben Sie’s mir, liebe Leserinnen) schonungslos aufdeckt – im Jahre 2060.
Bis dahin mit freundlichen Grüßen und den besten Wünschen für einen verhagelten 3. Oktober, ergebenst stets der Ihre.

Der sich an diesem Bild aus dem Sommer, als ich an meinem Arbeitsplatz zu kollabieren drohte, weil mein Deo nicht durchhielt, die kalten Füße wärmt.

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