15.12.2019 – Wer keine Kälte hat, der macht sich welche


Silves, Algarve, Weihnachtsmarkt. Ich war bei der Ankunft schweißgebadet vom Rad gefallen, auch wenn die Lufttemperaturen eher milde waren, ca. 20 Grad, hatte die Sonne doch eine starke Intensität und die letzte Steigung trieb mir den Schweiß aus allen Poren. Bei dem Anblick dieser Winteranmutung auf dem Markt musste ich lachen und dachte:
„Die spinnen, die Portugiesen. Sollen mal lieber dankbar für ihren Winter sein, anstatt sowas Überflüssiges wie Schnee und Frost herbei zu imaginieren.“
Aber das ist vermutlich ein Wesenszug des Homo Sapiens, die Sehnsucht nach dem, was fremd ist. Logisch, sonst würden wir alle noch auf dem Baum hocken. Was wir ethisch gesehen auch noch tun. Diese Sehnsucht bezieht sich vermutlich aber nur auf das Fremde, nicht auf den Fremden, zumindest nicht in Form des Migranten.
Ein weites Feld, für Ethnografen und Soziologen. Ich bin eher Reisender und trollte mich nach einer Sopa de legumes, einem Bica und einem Portwein Strandwärts, den Fluten des Atlantik entgegen. Bei dessen Anblick muss ich immer an einen Film denken, der mich ziemlich beeindruckt, wenn nicht gar geprägt hat, ein sehr schräges Meisterwerk vom heute leider in Vergessenheit geratenen Herbert Achternbusch „Der Atlantikschwimmer“. Aus dem Film stammt die heute bis zur Besinnungslosigkeit gestammelte Phrase „Du hast keine Chance aber nutze sie“.
Meines Bleibens in den Fluten ward kurz, 14 Grad Wassertemperatur sind mittlerweile ein Grenzwert für mich. Raus aus dem Wasser und rein ins Flugzeug.

Neukölln, saukalt. Was für ein Unterschied. Die einzigen Lebewesen, die ich an der Algarve außer den Eingeborenen wahrgenommen hatte, waren wohlhabende Engländer und Deutsche, die dort ihren Altersruhesitz haben, und deren für mich herausragende Eigenschaft war, dass ich mich vor den ortsüblichen Dorfkneipen unter ihnen jung, so jung fühlte.
In Neukölln, auf der Karl-Marx-Str., hingegen das wirklich pralle Leben. Erkennbar fast niemand, der materiell gesehen auf der Sonnenseite des Lebens existiert. Viele waren eilig, fast gehetzt, unterwegs, zur schlecht bezahlten Arbeit, auf der Suche danach, zum Einkauf, was auch immer, Bettler, Obdachlose, überwiegend arabische und türkische Landsleute, wenn man überhaupt mal einen Niqab in unseren Breiten sieht, dann hier. Den Anblick finde ich gruselig. Wenn ich schon Begründungssätze dafür lese wie: „Der Prophet hat gesagt…“ (siehe auch „Ich bin der Herr, Dein Gott ….“) fliegt mir der Quark aus der Kanzel. Soll man das Tragen verbieten? Produziert man damit nicht Märtyrer*innen? In staatlichen, säkularen Räumen wie Schulen, Gerichten etc. haben solche politischen Symbole nichts verloren und gehören verboten, siehe auch Schleier, Kruzifixe etc. Aber in der Öffentlichkeit? Hm.
Der M41-Bus in Neukölln war wie immer knüppeldick voll. Ich zählte mein einsehbares Umfeld durch: Von 14 Personen lasen 9 Druckerzeugnisse, meist Bücher, 2 schauten auf ihr Handy und einer, der Fortschritt sozusagen, arbeitete hybrid, von seinem Smartphone auf Papier-Unterlagen. Die hohe Papier-Quote verblüffte mich. Zufall? Neukölln?
Es müffelte nach billigstem Parfüm, Knoblauch und Alkoholfahne im Bus.
Ich war wieder Zuhause.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert