18.08.2020 – Über die Aneignung fremder Territorien


„Die hat seit ein paar Jahren zu“, rief mir ein fürsorglicher Eingeborener zu, als er mich beim Studium der Getränkekarte sah. Ich habe mal ein Projekt gestartet, bei dem ich Speise- und Getränkekarten unterschiedlicher Restaurants, Wirtshäuser etc. fotografierte, von Sterne-Etablissements bis hin zu jener Kneipe bei mir umme Ecke mit dem nicht gerade umsatzträchtigen Namen „Hartz-IV“, die folgerichtig nach einem Jahr wieder dicht war. Diese Dokumentation sagt mehr als 1000 Worte über den Zustand unserer Republik aus. Das Projekt hab ich nicht beendet, aber es weht noch in mir nach. Die Lektüre von Speise- und Getränkekarten in fremden Orten gehört neben der von Plakaten zu meiner Pflichtlektüre im öffentlichen Raum, das gehört zwingend zur Aneignung fremder Territorien, ist politische und ästhetische Bildung par excellence. Und höchst unterhaltsam. In einem Pornokino gibt es ein anderes Angebot („Herrengedeck“!) als in meiner Lieblingskneipe zwei Straßen weiter namens „Das Kapital“. Die allerdings auch schon dicht ist.
Den Anblick von Judy’s Kino Bar fand ich anrührend. Das Design der Fassade ist geradezu liebevoll individuell und hat nichts mit der marktschreierischen primitiven Plumpheit vergleichbarer Läden im Rotlichtmilieu zu tun. Judy’s Kino Bar liegt mitten in einem reinen Wohnviertel, die gehört irgendwie zum Kiez und sie ist ein Menetekel einer vergangenen Zeit. Heutzutage ist Porno durch das Internet ein jederzeit frei verfügbares Mainstream Phänomen, vergleichbar mit Fußball. Wer Niveau hat und von Welt ist, hält sich von beidem fern, sollte sich trotzdem oder gerade deshalb damit auseinandersetzen. Es gibt nicht viele große gesellschaftliche Erzählungen, die über Klassengrenzen hinaus wirken, Fußball und Porno sind zwei. Wo das kollektive Erleben Fußball, sei es im Stadion oder Kneipe, enorme Zuwachsraten in den letzten Jahren hatte, ist der gemeinschaftliche Konsum von Porno in eben Etablissements wie Judy’s Kino Bar durch das Internet einen schnellen Tod gestorben. Disruption wie aus dem Lehrbuch.
So ragt die Kino Bar wie ein stummer, versteinerter Dinosaurier aus einer Zeit, wo Porno noch etwas schmuddeliges, geheimes anhaftete, in ein Heute, wo, und da klingelte gerade das Telefon und als ich zurück kam, waren alle schönen Gedanken über das Heute flöten. Bleibt festzuhalten, dass beiden Massenphänomenen Fußball und Porno ein ausschließlich Männerzentrierter Blick innewohnt und dass sie einen solchen permanent reproduzieren, was unter den Bedingungen von Corona verheerende gesellschaftliche Folgen hat. Corona ist ein Emanzipationsrisiko sondergleichen, nicht nur, aber vor allem aus ökonomischen Gründen. Und wenn ein derartiges gesellschaftliches Rollback orchestriert wird durch kulturell dominante Erzählungen wie Fußball und Porno, dann guter Nacht, Marie. Und welcome back, Doitscher Michel.
Ich hoffe weiterhin, dass der Profi-Fußball pleitegeht. Bloß wo hängen die ganzen Dumpfmeister aus den Stadien und Kneipen dann ab? Zuhause? Das wollen wir deren Familien nicht wünschen. Wird es zu einem Revival von Judy’s Kino Bar kommen? Sind so viele Fragen.

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