26.09.2020 – BDSM und Doggy Style.


Plakat, Berlin-Schöneberg. Wilde Plakate sind eine inoffizielle Kiezzeitung. Während man im Internet mitunter nicht weiß, wo man suchen soll, springen Plakate sofort ins Auge, ob man will oder nicht. In einer Gegend, wo keine wilden Plakate kleben, würde ich mich nicht wohl fühlen. Mitunter komme ich angesichts von wilden Plakaten ins Staunen, sei es ob ihrer Ästhetik oder Botschaft. Sie sind gerade in den Laboratoriums-Vierteln von Berlin, in denen die Zukunft der Rest-BRD schon vorab inszeniert wird, mitunter grell, unverständlich, irritierend, immer aber Horizonterweiternd, und sie liefern Information, an die man nicht käme, weil man gar nicht auf den Gedanken kommt, danach zu suchen. Ein Flaneur, der sich keine Zeit für wilde Plakate nimmt, ist keiner, höchstens ein Konsumspaziergänger oder Schaulustiger, und das ist etwas völlig anderes. Der Flaneur nimmt sich Zeit und Gedanken, schärft dabei die Klinge der Kritikfähigkeit, und das sind politische Kategorien. Kategorien, die sich nur im realen Leben von Stadt-Öffentlichkeit entfalten und günstigenfalls als Substrat von Erfahrung Bewusstseinspotential entwickeln.
Eine feine Grundlage dafür ist das Staunen und ich staune des Öfteren in Berlin, mehr als woanders. Nicht nur bei obigem Plakat, das in Schöneberg zu Dutzenden klebt, bei dem ich in der Provinz, meint hier Hannover, geneigt gewesen wäre, einen Straftatbestand zu unterstellen, Erregung öffentlichen Ärgernisses oder so. Keine Ahnung, ich bin kein Jurist. Bin nur ein Flaneur aus der Provinz, der erstaunt und erfreut zur Kenntnis nimmt, dass das in Schöneberg zumindest keine*n juckt. Die dortige Gegend um den Winterfeldt-Platz ist ein komplett schwuler Kiez, dessen Codierungen zu dechiffrieren mir mit meiner heteronormativen Wahrnehmung mitunter schwer fällt. Vor diesem Plakat z. B. stand ich grübelnd und zog das Smartphone zur Hilfe.

Sind so viele Sterne…. Und wieso bei Arbeiterinnen* Klasse und woanders der * dahinter? Und ist mit Cis eine Tonart gemeint, Moll oder Dur? Ich steckte das Smartphone wieder ein und staunte. Das Abgebildete wird in 10, 15 Jahren offizieller Diskurs in der Rest-BRD, und paar Jahre danach im Duden, siehe Gender*. Aber irgendwann sach ich mir: Lass die Jugend mal machen, ich muss das nicht mehr alles begreifen, auch wenn ich es intuitiv richtig finde. Das ist so ähnlich wie mit Technologien. Ein Leben ohne Smartphone ist natürlich möglich, aber für mich nicht wünschenswert, ohne das könnte ich mich weder beruflich noch privat organisieren. Aber bei dem nächsten heißen Scheiß sach ich dann mal: Das muss ich nicht mehr haben.
Es sei denn, ich komme aus dem Staunen nicht mehr heraus. Denn Staunen ist der revolutionäre Antrieb für Veränderung. Dinge neu sehen, das Staunen macht den Glauben an politische Utopien erst möglich. Ist nicht von mir. Das basiert u. a. auf dem Urvater der Flaneur-Philosophie Walter Benjamin. Da staunen Sie, liebe Leserinnen, oder?
Zur Plakat-Erklärung oben: BDSM-Stunden meint eine Versammlung des Bundes Deutscher Schul-Mädchen, Doggy Style ist ein Modetanz und bei Gleitzeit mit Gummi geht es darum, wie dehnbar im Sinne von AN Arbeitszeiterfassungsmodelle sind.
Ein entspanntes Wochenende, liebe Leserinnen, und bleiben Sie drin bis zum nächsten Mal, wenn der Provinzonkel wieder staunend aus der großen, weiten Welt berichtet.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert