02.11.2020 – Hanswurst und Arturo Ui


Berlin – Es ist ausgeschildert.
Es gibt bestimmte Codes in öffentlicher Sprache, darin ähnelt sie der Zeugnissprache, die muss man übersetzen. Die Formulierungen lesen sich auf den ersten Blick positiv, wohlwollend, konstruktiv, aber wehe, man schmeißt die Dechiffriermaschine an.
Ein Tenor (Vorsicht bei der Betonung) in der Bürgerpresse ist aktuell, soweit das zu meiner Kenntnis gelangt, der Lockdown-light Appell an die Vernunft und Kooperation der Einzelnen, sonst müssten wir bei aller von oben verordneten Regelungsdichte in den Lockdown hard. Es
klappe nur, wenn alle an einem Strick ziehen und wenn möglich, in die gleiche Richtung.
Heißt übersetzt: Wir schaffen es nicht mit dem Lockdown light. Denn dass es mit Moral, Vernunft und Einsicht in der bürgerlichen Gesellschaft stetig bergab geht, auch wenn sich viele noch strebend bemühen, haben sogar ihre medialen Organe begriffen. Insofern ist es mit dem Lyrik-Appell an die Einzelnen so wie mit der Sonntagspredigt: Wir brauchen jetzt die Klimawende. Mehr Gerechtigkeit. Frieden auf der Welt. Freibier für alle. Und Eierkuchen.
Hört sich alles toll an, schreit jede sofort hurra und 112 Prozent Zustimmung. Weil jede weiß, dass jedes Wort dieser Appelle weniger wiegt als ein Gran Hoffnung. Insofern ist mein Urteil über die Bürgerpresse auch heute wieder: Sie war nach besten Kräften bemüht.
Ich verlass mich als Kompass da eher auf meine Ästhetik, ist sie doch untrügliches Zeichen individueller Spannungen und gesellschaftlicher Deformationen. Dass ich mir so ein Kitschding wie oben gekauft habe, spricht Bände. Normalerweise sortiere ich seit Jahren eher aus und stell mir nicht so eine Geschmackszumutung in die Wohnlandschaft, die man nur mit Mühe als ironisches Meta-Ebenen Zitat verkaufen kann (siehe auch Gartenzwerge). Berlin als unerreichbarer Sehnsuchtsort, als Mischung aus Utopia und Arkadien. Irgendwo las ich unlängst, dass für viele Berlin-Zuwanderer diese Stadt der Roman ihres Lebens ist. Schöne Formulierung.
Statt Utopie also Kitsch. Die nächsten Monate werden echt finster. Die US-Wahl Morgen wirkt da auch nicht aufhellend. Egal, wie sie ausgeht, ob es zu Gewalt und Unruhen kommt, die Tatsache, dass eine Mischung aus Hanswurst und Arturo Ui wie Trump auch nur in die Nähe einer Kandidatur kommt, und sei es für das Amt eines Klassensprechers, spricht Bände. Das zeigt, dass in der bürgerlichen Gesellschaft der Kern zum Faschismus angelegt ist. Mitunter wird er durch die Verfasstheit der Zivilgesellschaft und Stärke der Institutionen am Keimen gehindert, sind beide aber derart marode und unausbalanciert wie in den USA, dann entwickelt sich das in Stufen, was man nicht erst seit Übermorgen dort sieht.
Aus dieser Erkenntnis heraus waren ja auch die Verfassungsrealität und Gründungsmythos der DDR explizit antifaschistisch ausgelegt. Was von der Geschichte nicht gewollt war. Der Mob wollte lieber nach Mallorca.
Aber bevor ich mich hier wieder zu sehr über das gemeine Volk erhebe, gestehe ich hier und heute, frank und frei, vor Göttin und der Welt: Ich will im Moment auch Nichts lieber als nach Mallorca. Sonne, 22 Grad, Wasser 21….
Seufz, jaul, jammer.
Aber ab jetzt wieder, das gilt auch für Sie, liebe Leserinnen: Zähne hoch und Kopf zusammenbeißen. Unter Druck wird ja aus Kohle Diamant.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert