08.02.2021 – Faszinierende Lektüre


Adressbuch Hannover 1953.
Ich wohne in Hannover in einem Kiez, der ehemals Arbeiterviertel war, danach ins Migrant*innen – und Student*innenfach überwechselte und jetzt Zug um Zug der Gentrifizierung anheimfällt. Vergleichbares gibt es in jeder Großstadt, siehe auch Kreuzberg/Fuckhain. Mir persönlich geht dieses Kiezgetue der linksalternativen Schnarchsäcke aller Schattierungen seit Jahren eher auf den Senkel, was soll bei Leuten schon groß rauskommen, die immer nur Klimmzüge an der eigenen Kiezmauer machen. Beschränkte Horizonte in jeder Beziehung. My Kiez is my castle. Trautes Heim, Kiezglück allein.
Der Dandy und Mann von Welt ist natürlich Kosmopolit, allein schon deshalb, weil diese Geisteshaltung unter den Nazis lebensgefährlich war und im Stalinismus nicht selten im Gulag endete. Wobei wir hier bei „uns“ von Beidem weit entfernt sind.
Einerseits Göttinseidank, andererseits gibt es immer mehr Nazis, Verschwörungsidioten und ähnliches Gesindel, für die ich mir ein Umerziehungslager wünschen würde. Hört sich irgendwie Scheiße an, aber nennen Sie es einfach „Langfristigen Mentalquarantäneaufenthalt“, dann liest sich das schon humaner. Alles eine Frage der Semantik.
Im Gegensatz zur Kiez-Gegenwart überaus faszinierend und lehrreich ist dagegen die Lektüre der Vergangenheit, siehe oben

Adressbuch Hannover 1953, Bewohner*innen meines Hauses, mit Berufsbezeichnungen. Fast durchgängig proletarisch, ein Hauch vorindustrieller Prägung (Korbmacher) und von den Spuren des Krieges noch gezeichnet, Invaliden und Witwen. Auch die Anzahl der Parteien im Haus sagt etwas über den Wandel der Zeiten. Selbst wenn man berücksichtigt, dass für die 14 Parteien noch ein später abgerissenes Haus dazu kam, wo jetzt der Garten ist, macht diese Belegung deutlich, dass 50 qm damals für vier, fünfköpfige Familien eher die Regel war, wo heute Singles über zu kleine 70 qm jammern.
Der geschätzte Freund & Kollege Sievers, Besitzer des Adressbuches, hat mal die Anzahl der Fleischereien nur im Stadtteilbereich Nord und Mitte recherchiert: 46. Teilweise mehrere in einer Straße, wo es heute im gesamten Stadtteil keine einzige Inhabergeführte Fleischerei mehr gibt. Allein das gäbe Anlass zu Seitenlangen stadtsoziologischen Excursionen. Ich beschränke mich hier auf den ästhetischen Mehrwert dieses Buches, dass in seiner expressiv-voluminösen Wucht, der literarischen Avantgarde-Montagetechnik und der kohärenten Gestaltungsästhetik, die die Tradition in der Moderne aufgehen lässt, an den Ulysses von James Joyce gemahnt. Das schreit nach Performance. So wird das ingeniöse Duo Gleitze & Sievers in postcoronatischen Zeiten mit dem Adressbuch auf 7-Kioske-Tournee gehen und mit einer interaktiven Perfomance Spurensicherung betreiben. Sichern Sie sich schon heute Karten, wenn Sie wissen wollen, mit welchem Pack Ihr Opa, der alte Nazi, damals alles unter einem Dach gehaust hat.

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