18.12.2021 – Über das Phänomen der anschwellenden Dilemmata.


Ich lasse mir den Mund nicht verbieten? Meine Lieblingsmaske. Kein FFP 2, daher seit Monaten unbenutzt in einer Ecke. Mir fiel beim Anblick eines der Motto (was ist der Plural von Motto? Motti? Motten?) der Impfnazis ein, die auch an diesem Wochenende wieder zu Tausenden die Öffentlichkeit verpesten. Verpesten, selten passte ein metaphorischer Ausdruck so fein wie dieser.
„Ich lasse mir den Mund nicht verbieten“, so ein Motto der sich selbst als Seuchenrebell, als Pidder Lüng der Pandemie, gerierenden tausenden von impfverweigernden Hobbyvirolog*innen auf den Straßen der Republik. Wie schnell die nicht nur die mühseligen Ebenen der Epidemiologie und Mikrobiologie durchmessen haben, für die andere jahrelanges intensives Studium brauchten, sondern sogar schlauer geworden sind als 99,9 Prozent aller nicht selten promovierten oder habilitierten Fachleute, das versetzt mich in ehrfürchtiges Erstaunen. Welch bisher unbemerktes Potential an Geistestitanen wir dort haben.
0,1 Prozent, die an 100 fehlen, meint jene Fachleute wie den Mikrobiologen und antisemitischen Hetzer Sucharit Bhakdi, der auch als Bundestagskandidat der Impfnazi Partei „Die Basis“ fungierte.
Was treibt solche Menschen an, was ist die Ursache für ihr Handeln? Was persönlich in deren Hohlköpfen brummt, ist mir Wurst. Mir geht es um das offensichtlich flächendeckend vorhandene, strukturell Verbindende. Der individuell-pathologische Ausdruck ihrer Verwirrtheit ist ja ein Phänomen, das gesellschaftliches Handeln prägt, Gesellschaft bedroht und kollektives, aufgeklärtes Konter-Verhalten notwendig macht.
Nicht erst seit dem Aufkommen der sozialen Medien gilt die Erkenntnis: Zwei Währungen prägen die postmoderne Gesellschaft – Geld und Aufmerksamkeit. Mit ersterer lässt sich letztere kaufen, umgekehrt mit jener diese generieren, siehe z. B. Influencerinnen. Im Streben nach Aufmerksamkeit, Anerkennung, Aufgehen in einer Gemeinschaft Gleichgesinnter liegt sicher ein Motiv der Andersbegabten. Endlich bin ich arme Wurst auch mal Hero just für one day. Das Dilemma liegt im gesellschaftlichen Umgang damit: Sollen „wir“, wie auch immer ein derartig konstruiertes Kollektiv der Aufgeklärten aussehen möge, „die“ nicht beachten? Nicht mit ihren Positionen auseinandersetzen? Sollen die Medien nicht darüber berichten, um „die“ vom nährenden Fluss der Aufmerksamkeit abzuschneiden?
Ich verbreite mich auch deshalb hier über das Phänomen „Dilemma“, weil Dilemmata immer mehr zum Problem werden. Wie gehen wir zum Beispiel mit dem Dilemma um, dass mit dem Mittel der Demokratie die Klimakatastrophe offensichtlich nicht verhindert werden kann? Wie mit dem Dilemma, dass der ständig anschwellende Reichtum der Wenigen immer mehr Arme produziert?
Zu weit will ich mit der Motivsuche bei unseren Hobbyvirolog*innen aber nicht gehen. Die Frage, ob die Bekloppten dieses Wochenendes als Kinder nicht lange genug gestillt wurden, beim Fußball in der Volksschule immer als Letzte in die Mannschaft gewählt wurden oder in der Tanzschule als Mauerblümchen sitzen blieben, ist mir dann doch Wurst.

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