20.12.2021 – Die Situation ist sowohl ernst als auch hoffnungslos


Die katastrophale Wohnungssituation in Ballungsräumen verschwindet aktuell hinter der Seuche. Es ist nur eine Frage der Zeit, wann in den nächsten Tagen angesichts von Minustemperaturen die ersten Obdachlosen erfrieren. Thema Nr. 1 aber bleibt Omikron und je dramatischer die Modellierungen ausfallen, desto mehr Impfnazis und Impfverweigernde gehen auf die Straße. Deren Parolen changieren irgendwo zwischen dumm und frech, was entsprechende Emotionen evoziert. Manchmal hilft es, wenn man kurz innehält, den Kopf ausschaltet (nicht zu lange! Die Nebenwirkungen sind dann beträchtlich) und in sich hineinhorcht, was für Emotionen es genau sind, die einen angesichts von soviel Dämlichkeit, Irrationalität und Niedertracht bewegen: Zorn, der untrennbar mit dem Urgefühl Aggression verbunden ist, aber auch sowas wie Verachtung, die immer „irgendwie“ (hilflose Vokabel) mit Fassungslosigkeit verknüpft ist.
Sie, liebe Leserinnen, kennen das vielleicht, wenn Verachtung in Ihnen aufquillt, ist der Ausruf „Das ist doch nicht zu fassen, das glaube ich nicht, das kann nicht wahr sein!“ nicht weit. Egal ob Sie privat von jemandem auf das Schäbigste hintergangen wurden oder die Politik mal wieder in Trumpsche Kategorien entartete. Zorn und Verachtung, genau der richtige Cocktail, um in Weihnachtsstimmung zu kommen.
Um das Maß vollzumachen, spürte ich beim Nachgehen meiner Emotionen noch sowas wie Mitleid. Der Impfnazi mit seiner kleinen Schwester, der Impfverweigerin, ist ja in seiner Gefährlichkeit und Erbärmlichkeit durchaus auch eine lächerliche, groteske und arme Wurst. Eine feine Visualisierung der Ambivalenz von Gefährlichkeit und Groteske ist Charlie Chaplins „Der Große Diktator“. Den Impfnazi treibt ja nicht nur Langweile auf die Straße, weil er keine Arbeit hat oder kein Hobby, es ist auch nicht nur die Angst vor der Spritze, vor dem vermeintlichen Freiheitsverlust durch das Scholzsche Impfregime, es ist eine tiefersitzende: Es ist die grundsätzliche Angst im Kapitalismus. Die sich immer wieder und immer häufiger an konkreten Zuständen, wie einer Seuche, Bahn bricht. Kapitalismus produziert Angst und profitiert von ihr, durch den ständigen Existenzkampf, dem die Individuen ausgesetzt sind, durch den Kampf aller gegen jeden, durch kafkaeske Gesetzmäßigkeiten, denen alle scheinbar ohnmächtig ausgesetzt sind. Kein Kapitalismus ohne Angst, zu den Nebenwirkungen fragen Sie Ihren Arzt oder Psychiater.
„Angst im Kapitalismus“ von Dieter Duhm war ein zentrales Buch in der undogmatischen Linken der 70er, das den Versuch unternahm, den ökonomistischen Ansatz der marxistischen Orthodoxie mit individualpsychologischen Erkenntnissen zu vereinen. Der Ansatz stand in der Tradition von Wilhelm Reich, dessen „Massenpsychologie des Faschismus“ heute noch mein immer spärlicher werdendes Bücherregal ziert. Es erschien 1933 und führte prompt zum Rausschmiss von Reich aus der KPD.
Wer bei den heutigen Krisen nicht immer den Kapitalismus und dessen Nachtmahr, die Angst, mitdenkt, wird nie die Instrumente zu ihrer Überwindung auch nur definieren können. Es bleibt alles Stückwerk. Ansätze liefern immer noch undogmatische linke Klassiker wie Duhm, Reich, Walter Benjamin und Klaus Theweleit. Wobei die Geschichte da nicht immer gut ausging. Reich und Duhm drehten beide ziemlich in esoterische Gefilde ab, Reich mit seiner Orgonomie und Duhm endete in einer Grusel-Sekte vom Kaliber Otto Mühl. Ein bisschen mehr marxistische Orthodoxie hätte den Beiden gutgetan. Zuviel Püschologie is auch Kacke.
Fazit: Die Situation ist sowohl ernst als auch hoffnungslos und der Humor fängt da an, wo der Spaß aufhört.

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