21.12.2021 – Die totale Versohlung


Das ist kein Insidertipp für Anhänger*innen der etwas härteren Gangart, worauf ja auch der Schuh-Kick und das Leder hinweisen könnte, sondern ein Schuster. Kam mir unlängst bei einem abendlichen Kiezwalk vor die Linse. Dass man auf dem Bild gut was erkennen kann, ist meinem relativ neuen Smartphone geschuldet. Ich bin kein Smartphone-Fetischist, der hechelnd auf die neueste Generation wartet, 90 Prozent der Funktionen dieses Digitalschnullers sind mir wumpe, aber über die Qualität der Kamera freue ich mich schon.

Lindwurm. Kiezkneipe. Mit dem alten Smartphone hätte ich gar nicht erst versucht, was zu knipsen. Lindwurm, also Drachen, fiel mir deshalb ins Auge, weil ich kurz vorher am Kiez-Kulturzentrum Faust vorbeigekommen war.
Nichts los, alles dunkel, drei, vier Gestalten hockten in der Kälte vor der dazugehörigen Kneipe. Die Faust-Gebäude lagen ermattet in der Dunkelheit, erinnerten mich ein bisschen an Drachen aus diesen Fantasyfilmen, die zum Schluss ermattet, der Agonie nahe, am Boden liegen. Ihre Zeit geht zu Ende, eine neue Epoche bricht an. Nein, ich hatte nichts geraucht, es war nur meine Phantasie, die mir das Hirn in kalten Zeiten wärmte.
Es weiß ja schon kein Mensch, was die nahende Omikron-Zukunft an Restriktionen und Lockdowns bringt. Wer wollte da eine Prognose wagen über eine mittelfristige Zukunft von unserem gesellschaftlichen Treiben, inklusive Kultur, Produktion, Reisen, Öffentlichkeit, wenn noch infektiösere Sigma oder Tau Varianten die Oberhand gewinnen, gar völlig neue Seuchen nahtlos anschließen.
Was würde aus dem bunten Treiben, um bei dem Beispiel zu bleiben, in den alternativen Kulturzentren? Das ich, obwohl kein Alternativer, immer geschätzt habe. Tolle Konzerte, Lesungen oder auch eigene Projekte, wie jahrelang eine monatliche Satiresendung, gemeinsam mit anderen, beim extrem alternativen Radio Flora. Oder die Premiere eines Flüchtlingstheaterstücks. Dessen Produzent ich war und den angesichts der Getränkerechnung bei der Premierenfeier beinahe der Schlag traf. Immerhin handelte es sich um öffentliche Fördermittel und da gibt es ein Credo: Alkohol ist nicht abrechnungsfähig.
Tatsächlich hängen also an dem Drachen in Agonie, an Faust, viele durchaus zauberhafte Erinnerungen. Leben eben.
Was wird, wenn Seuchen zum gesellschaftlichen Dauerzustand werden? Wenn wir also, um den Laden, die Produktion am Laufen zu halten, eine definierte permanente Seuchenwirtschaftsordnung brauchen, der Ausnahmezustand also die Regel wird? Um Ihre Phantasie für eine Gesellschaft nach der 10. Welle in Schwung zu bringen, liebe Leserinnen, empfehle ich als Einstieg den Wiki-Artikel über Kriegswirtschaft. Ersetzen Sie einfach „Krieg“ durch „Pandemie“, dann haben Sie die Richtung.
So schlimm wird es schon nicht kommen. Und wenn ich jetzt jemanden zwischenrufen höre, die Soldaten im Ersten Weltkrieg dachten im September 1914 auch, sie wäre zu Weihnachten wieder siegreich Zuhause, dem drohe ich die Versohlung an, wenn nötig, totaler und radikaler, als wir sie uns heute überhaupt noch vorstellen können…

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