03.01.2022 – Dem Flaneur ist nichts zu schwör.


Seit Corona gehe ich häufiger zu Fuß, aus verschiedenen Gründen und in unterschiedlichen Geschwindigkeiten. Wobei gehen unpräzise ist. Synonyme und präziser sind u. a.: marschieren, schlendern, promenieren, schleichen, bummeln, hinzu kommt Artverwandtes wie wandern, walken etc. pp.
Konstituierend für den Kapitalismus sind nicht Maschinen oder Ideologien, sondern ist Bewegung. Stillstand wäre da der Tod, es muss immer schneller, weiter, höher gehen, rasender. Deshalb war die Muße verflucht, bis sie als Heilmittel zur Selbstoptimierung für den Produktionsprozess erkannt wurde. Müßiggang war früher aller Laster Anfang, die Faulheit eine Todsünde und auch heute noch ist staatlich anerkannt verflucht, ergo Hartz-IV-Sanktionen unterworfen, wer sich dem Erwerbsprozess entzieht.
Wir haben wahrscheinlich mehr Begriffe für Bewegung und den Sonderfall „gehen“ als die Eskimos für Schnee. Gehen findet fast immer Geschwindigkeitsoptimiert statt. Wenn wir in der Stadt gehen, tun wir dies meist mit annähernd Höchstgeschwindigkeit unterhalb der Schweiß-Grenze. Beim Wandern fordern wir diese heraus. Man muss sich nur mal Quartalsirre, mit starrem Blick auf neue Rekordzeiten, anschauen, die mit Maximalspeed durch die Wälder powern, oft an irgendwelche Körperüberwachungsgeräte gebunden, leider nicht an Intelligenzoptimierer, die ihnen einflüstern: Mach mal langsam, genieß es. Qual ist der Genuss des Leistungswilligen und Schweiß sein süßer Lohn. Wie oft, liebe Leserinnen, haben Sie beim Wandern Menschen einfach stehen, liegen, gucken, also in Nicht-Bewegung gesehen? Selten dürfte noch übertrieben sein. Im Urlaub findet das schon eher statt, da dient es der Muße, also siehe oben, oder dem Sammeln von Eindrücken, was auch wieder funktional ist und zweckgerichtet, dient es doch der Erfahrung und Ästhetik-Pflege. Climax all des Irrsinns: Laufbänder, da sind die Bekloppten ganz bei sich, gerne auch im Fitness-Center in Gemeinschaft. So wird Individualität zur Lachnummer, unterscheidbar nur im Schweißband.
Jede pathologische Entwicklung fordert Gegen“bewegungen“ (Sic!) heraus. Auf Marx, der Arbeit als Fetisch regelrecht vergötterte, folgte sein Schwiegersohn Paul Lafargue mit dem Recht auf Faulheit und gegen die im Industriekapitalismus des 19. Jahrhunderts zum Exzess getriebene Verachtung des Müßiggangs entwickelte sich der Flaneur, der planlos umherschweift und schauend genießt. Hatte er im 19. Jahrhundert noch Dandycharakter, der gesehen, wahrgenommen werden wollte (es gab Flaneure, die sich ihr Tempo mittels einer mitgeführten Schildkröte vorgeben ließen, was natürlich Aufmerksamkeit erregte), tauchte der Flaneur des 20. Jahrhunderts in der Maße unter. Was macht den Flaneur des 21. Jahrhunderts aus? Das herauszufinden wird meine Hauptaufgabe für das kommende Jahr in Berlin sein. Wenn das planlose Umherschweifen und schauende Genießen per Rad als Flaneur-Parameter für das 21. Jahrhundert akzeptabel ist, war ich da auf einem sehr guten Weg. Das Umherschweifen war interessanterweise auch Kriterium für die Stadtindianer, die mir von allen Kaspertruppen der radikalen Linken die liebste war. Da fügt sich eins zum andern.

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