
Unlängst las ich nach der Anregung eines geschätzten und lesenden Freundes Wilhelm Genazinos Abschaffel-Trilogie von Ende der Siebziger wieder. Abschaffel, Flaneur und „Workaholic des Nichtstuns“, kompensiert mit innerer Phantasietätigkeit die Ereignisöde seines Angestellten-Daseins. Vorher hatte ich das zeitgenössische „Arbeit“ von Thorsten Nagelschmidt gelesen. Elf meist namenlose Protagonist*innen, fast alle prekär lebend, erledigen, unsichtbar für Flaneure, die Drecksarbeit in Berlin.
Zwischen beiden Werken liegen ca. 45 Jahre und wie es sich für gute Literatur ziemt, vermessen sie exakt die Entwicklung gesellschaftlicher Zustände im Schnittpunkt mit inneren Befindlichkeiten. 45 Jahre Entwicklungen, Perspektiven aus einer Republik, vormals – und von mir gerne immer noch so gescholten – BRD, jetzt Deutschland. Was für Welten liegen dazwischen.
Hier Abschaffel, Angestellter im Normalarbeitsverhältnis, damals die absolute Regel. Zustand Abschaffels und der Republik zu jenen Zeiten: Ökonomische Sorgen? Ebenso Fehlanzeige wie solche um eine grundsätzliche Zukunft. Abschaffel lebt im ausgehenden Goldenen Zeitalter des Kapitalismus, die Welt scheint immer besser zu werden. Es bleibt Zeit und Muße, sich – obsessiv im Falle Abschaffel – mit der eigenen Innenwelt zu beschäftigen. Im Mittelpunkt steht der später legendär gewordene „Subjektive Faktor“. Nicht umsonst wurde in jener Zeit, in Abkehr zum politischen Aufbruch von 68ff., das Volltrottelwesen der Bhagwan-Bewegung in der BRD populär, die in Berlin immer noch zu jedem Karneval der Kulturen einen eigenen Wagen mit Bimmel Bimmel und Harri Krischan Sing Sang begleiten. Genazino webt, als später Thomas Mann-Verwandter, in den Abschaffel einen ironisch-melancholischen Grundton, der, hat man ein Gespür dafür, zum Lachen reizt.
Das Lachen vergeht einem bei „Arbeit“ von der ersten bis zur letzten Seite. Namenlose, permanent vom Absturz bedroht, eilen, hasten, rasen in ständiger Sorge ums materielle und psychische Überleben durch die Nacht von Berlin, nichts ist ihnen ferner als Muße, Ruhe, Beschaulichkeit. Der Flaneur in den Straßen der Metropole ist ihnen ein Wesen aus einer anderen Galaxie. Die Literatur von Nagelschmidt, ehemaliges Mitglied einer Punkband, ist wie Herdplatte heiß, während das Genazino Instrument eher der Schaukelstuhl ist.
Als teilnehmender Zeitgenosse dieser gesellschaftlichen Entwicklung, dieser Verrohung, fragte ich mich beim vergleichenden Lesen, in einer Mischung aus angeekelt und wütend: In was für Zeiten leben wir eigentlich?!
Hier hilft, ohne die Entwicklung schön reden zu wollen, kurz beiseitetreten. Wenn Abschaffel 45 Jahre zurückblickt, schaut er der Fratze des siegreichen Faschismus in die Augen. Deutschland ab 1933 in Vorbereitung des Holocaust. Was für Welten liegen zwischen 78 und 33.
Und hätte Abschaffel 1933 zurückgeblickt, wäre er im Dreikaiserjahr 1888 gelandet, niemand ahnte etwas vom Grauen des ersten Weltkriegs. Elektrischer Strom und Autos? Fehlanzeige. Eine Postkartenwelt. Was für Welten liegen zwischen 33 und 88.
Wie auch immer Sie, liebe Leserinnen, die skizzierten Entwicklungen bewerten, für beide Bücher gilt: Lesenswert
04.02.2022 – Nicht immer nur Seuche. Mal kurz beiseitetreten
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