16.04.2022 – Toleranz üben und Brüche aushalten


Die Dame dürfte jenseits der 80 gewesen sein. Souveräne Eigensinnigkeit und Stil, ein erfreulicher Anblick. Sieht man von der Töle am anderen Ende der Stilikone ab, eine von über Hunderttausend, die Berlin jeden Tag mit Tonnen von Hundescheiße zupflastern. Gesehen im Ludwigkirchplatz Kiez. Stuckreiche, große Altbauten, gepflegte Plätze und Grünanlagen, exklusive Geschäfte, Galerien, Restaurants – Wilmersdorf at its best. Ein Fest für jeden Flaneur. Allenthalben reden die Menschen in fremden Zungen, Englisch, Spanisch. Die Einkommen dürften beträchtlich über dem Berliner Median liegen. Hier lebt sich’s gut. Wenn man genügend Geld hat.
Die Fahrt von hier zur U-Bahnstation Boddinstr. in Neukölln dauert keine halbe Stunde. Es ist eine Weltreise, in einen vollkommen anderen Kosmos. Auf einer Bank in der U-Bahnstation ein Drogensüchtiger, halb liegend, halb sitzend, dem Tod näher als dem Leben, und zieht sich den Stoff, Crack, Meth, Heroin, was auch immer, mit einem Röllchen aus Aluminiumpapier in die Lunge. Die Hände dunkel vor Dreck, man meint das Elend riechen zu können. Was in Wilmersdorf einen sofortigen Polizeieinsatz zur Folge hätte, nimmt hier niemand wahr.
Oben, auf der Flughafenstr., reden die Menschen in fremden Zungen, Türkisch, Arabisch. Die Einkommen dürften beträchtlich unter dem Berliner Median liegen. Die hier dominante Machismo-Kultur geht mir gewaltig auf den Sack, dauernd brettert irgendein Migrationsvollpfosten mit quietschenden Reifen und heulenden Motoren von PS-Monstern durch die Gegend. Haben die alle so kleine Schwänze? Schlimmer noch: Unmengen verschleierter Frauen und das Tragen einer Kippa oder offene Ausleben einer in Schönberg selbstverständlichen queeren Kultur ist hier lebensgefährlich. Mitunter habe ich schon den Impuls: Alle ab nach Syrien, zum Minenräumen. Bevor ich mich zivilisiere und mir ins Bewusstsein rufe, dass ja nicht alle so sind, und es zu einer offenen Gesellschaft gehört, Brüche auszuhalten. Die Grenzen zieht das Strafrecht. Wer also mit Antisemitimus, Frauenverachtung und Hass auf Queere gegen das Gesetz verstößt, die S-Bahnen 9 und 45 fahren zum BER-Flughafen, wo jede Menge Flieger bereit stehen ….
Aber trotz allem, oder gerade deswegen, fühle ich mich hier wohl. Ein Fest für Flaneure. Garniert mit einem kräftigen Spritzer voyeurhaftem Grusel. Neukölln in dieser Gegend wird mir immer fremd bleiben, im Gegensatz zur Szenegegend am Tempelhofer Feld. Die ich aber auch nicht besonders leiden kann, u. a. wg. asozialer Ablehnung der Teilbebauung des Tempelhofer Feldes.
Das Fremde auszuhalten, und das, was man nicht leiden kann, trotzdem schätzen zu lernen, dafür ist Berlin gut. Und was eine Vorspeise in Wilmersdorf kostet, dafür gibt’s in Neukölln ein komplettes Essen inklusive Alkoholika. Sollte allerdings eine selbsternannte Scharia Polizei in Neukölln auf die Idee kommen, gegen Alkoholkonsum vorzugehen, wäre meine Toleranz beendet. Dann aber wirklich ab in den Flieger.
Fassen wir zusammen: Toleranz üben und Brüche aushalten. Es werden allerdings immer mehr Brüche und sie werden immer tiefer. Rohe Eiertage, liebe Leserinnen.

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