15.04.2022 – Der Bus-Flaneur


Die letzte Kremlfahne. Am Checkpoint Charlie, einem der größten Touri-Nepp-Orte in Berlin, wo täglich zig Leute in wohligem Grusel ob der Erinnerung an den Kalten Krieg vor einem nachgebauten Kontrollpunkt mit Imitat-Soldaten posieren. Fotografiert vom M29er Bus aus. Wahrscheinlich hängen weltweit Tausende letzte Kremlfahnen, siehe auch „Original-Mauerstücke“. Stadtrundfahrten in Berlin für teures Geld können Sie sich sparen, liebe Leserinnen. Tagesticket für 8,80 Euro und – vor allem bei schlechtem Wetter und müden Füßen – den ganzen Tag die M29er Strecke durch Kreuzberg und Neukölln juckeln.

Was vor allem bei Dunkelheit mit all den Neonleuchtenden Kneipen, Bars und Restaurants ein ziemlich zauberhafter Anblick ist.
War der klassische Flaneur auf den Spuren Walter Benjamins und anderen noch per pedes unterwegs, bietet sich für die postmoderne Variante auch das ziellose Treibenlassen mit Rad oder Bussen an. Radln ist allerdings in Berlin grundsätzlich ein gefährliches Unterfangen und nur höchstkonzentriert und behelmt anzugehen. Da empfiehlt sich das Treibenlassen eher in ausgesuchten Kiezen und Nebenstraßen, was also qua Plan dem Flaneur-Gedanken eher widerspricht.
Ich bin dazu übergegangen, Bus-Flaneur zu werden. Einfach ziellos von einer Linie zu anderen zu hoppen und wenn es mir irgendwo gefällt, auszusteigen und das Terrain als klassischer Fuß-Flaneur zu erkunden. Wobei „erkunden“ dem Flaniergedanken auch schon widerspricht. Vielleicht bin ich, sind wir?, schon grundsätzlich zu sehr Effizienz- und Erkenntnisverdorben. Alles muss ein Ziel, einen Sinn, eine Erkenntnis haben, verwertbar sein. Selbst bei einigermaßen resistenten und renitenten Gemütern wie mir ist diese neoliberale Ideologie auch im Nichterwerbsbereich schon wie ein Gift in alle Zellen nicht nur der Wahrnehmung gesickert. Beim Strandliegen gelingt mir eine kontemplative Abwesenheit solchen Gedankenschrotts noch am ehesten, ein Buch zur Hand zu nehmen käme mir da nie in den Sinn. Was für eine extreme Vergeudung an Nutzlosigkeit wäre das. Wandern ist auch ok. Beim Wandern sind mir mitunter Gedanken fern. Aber leider nicht der Gedanke, wie gesund das jetzt ist, wie sinnvoll, welche Strecke ich da gerade wieder zurücklege. Und im schlimmsten Fall welche Freude mich durchströmt, wenn ich etwa ein keuchendes Etwas vor mir an einer steilen Steigung in brüllender Sonne „abkoche“. Fehlt nur noch Schrittzähler und Stoppuhr. Grausam.
Busflanieren hingegen kann durchaus etwas wie eine Meditation sein in gelungenen Momenten, weil man sich nicht aufs Gehen konzentrieren muss. Freies Fluten. Am intensivsten habe ich das bei Busfahrten durch das innere Alentejo erlebt, stundenlang gleiten da in flacher unbedeutender Landschaft im ständigen, trägen Wechsel Rinder, Oliven, Mandelbäume, Felder an einem vorbei, visuelle Mantren.
Ähnliches nun im Moloch Berlin erleben zu können, hat was Faszinierendes. Und Entlastendes, da die Gedanken an die tausend Krisen draußen vor der Bustür endlich mal Urlaub haben.
Bis, wie geschehen, ein Rundfunksender anruft und gerne ein paar O-Töne zur Auswirkung der Inflation auf Menschen mit wenig Geld hätte.

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