21.04.2022 – Leistungswasser


taz, 19.04.2022.
Mittlerweile ist Armut sogar ein Thema im Organ der höheren Stände, der HAZ. Kein Wunder, macht sich doch langsam auch Panik in ihrer Klientel breit, der ehrenwerten Mitte der Gesellschaft. Die nächste Rezession klopft mit kalten Fingern auch an die bisher gut gesicherten Türen ihrer Jobs, die Inflation frisst die Ersparnisse auf, Altersarmut am Horizont, selbst wohlsituierte Doppelverdienende finden in Ballungsräumen keinen bezahlbaren Wohnraum. Positiv daran: Endlich wieder im letzten Jahr Geburtenrückgang in Deutschland, das erste Mal seit vielen Jahren. In Spanien übrigens um 20 Prozent, in Frankreich um 13,5 Prozent. Wenn man bedenkt, wie sehr jeder Insasse der hiesigen Regionen die Umwelt verpestet, eine Hoffnung machende Entwicklung.
Ein Beispiel, wie sehr die Reproduktionsrate von sozialen Bedingungen und ökonomischen Umständen abhängt, ist die ehemalige Ostzone. Hier brach innerhalb kürzester Zeit die Geburtenrate von 1,9 Kindern pro Frau 1980 auf sagenhafte 0,75 Anfang der 90er ein.
Die Einführung des Kapitalismus in der Ostzone hatte auf einen Schlag die Verhältnisse zur Aufzucht von Brut desaströs katastrophisiert. Kinder wurden zum Lebensrisiko. Das Sein bestimmt eben nicht nur das Bewusstsein, sondern vor allem das Verhalten. Insofern hat jeder noch so berechtigte feministische Aufruf zum Gebärstreik nie etwas bewirkt, das waren reine Kopfgeburten.
Eine Geburten-Entwicklung, wie es sie vorher nur zur flächendeckenden Verbreitung relativ einfacher Verhütung via Pille gab.
Und nun ham wa wieder mal nen großen Kladderadatsch. Was tun? Interessant ist, was nicht breit diskutiert wird: Die Beteiligung von Superreichen an einer gerechten Finanzierung unseres Gemeinwesens mittels Vermögensabgabe, siehe taz oben. Das ist bezeichnend für den Strukturwandel unserer Öffentlichkeit in den letzten, neoliberalen Jahrzehnten: Den armen Schweinen gönnt man nichts, eine substantielle Erhöhung der Hartz-IV-Sätze wird nur von einer Minderheit der Bevölkerung unterstützt, aber das Goldene Kalb, der Fetisch Reichtum, die Sehnsuchtsprojektion so vieler aus der Mitte, bleibt undiskutiert unangetastet. Nach unten treten, nach oben buckeln. Das ist der ideelle Gesamtdoitsche und falls das Sinken der Geburtenratte und die drohende Überalterung erste Indizien für ein Aussterben dieser Spezies sind, so wollen wir gerne in all der tagesaktuellen Krisen-Düsternis einstimmen mit dem Dichtergott Friedrich Hölderlin in die frohe Ode an die Zukunft:
Wo aber Gefahr ist
Wächst das Rettende auch.
Als Rausschmeißer für heute was zum Schmunzeln und durchaus passend zum bisher Ausgeführten über das neoliberale Gift, was sich selbst in die Köpfe Resilienter gefressen hat, ein Versprecher, der mir unlängst unterlief: Statt Leitungswasser „Leistungswasser“.

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