
U-Bahn Viadukt Kreuzberg, führt mitten durch das Haus Dennewitzstr. 2. Über 600 U-Bahnzüge donnern jeden Tag durch das Haus. Als ich das beim Flanieren entdeckte, keine Viertelstunde von meiner Haustür, habe ich den Sinn der Konstruktion erst begriffen, als die ersten Züge da lang ratterten. An der Ecke steht dann auch eine Tafel mit Erklärungen. Die Symbolik des Bildes hat was aggressiv phallisch-penetratives. Die Konstruktion steht für den ambivalenten Charakter des Kapitalismus: Einerseits grandios dynamisch und kreativ, die Entwicklung der Metropole kühn vorantreibend, andererseits dem eigenen Treiber Mobilität rücksichtslos alles unterwerfend.
Fünf Minuten von da befindet sich, versteckt im Park Gleisdreieck, ein poetischer Ort, der die Seele anrührt und ihre Wogen glättet, ein locus amoenus par excellence: Das Café Eule. Außenbewirtschaftung mit Selbstgemachtem im Grünen, keine rechten Winkel oder gerade Stuhlreihen sondern zufällig hingewürfelte skurrile Sitzgruppen inmitten von Blumenkübeln aus alten Badewannen und Kommoden.
Das Café wurde mehrfach Opfer von Vandalismus, nächtliche Partygänger traten alles kurz und klein und hinterließen Verwüstung. Im Park Gleisdreieck selber machen fast jedes Wochenende Hunderte Feiernde die Nacht zum Tag und Anwohner*innen das Leben zur Hölle. Im James-Simon-Park an der Museumsinsel arten die Feiern nicht selten derart in Schlägereien, Überfälle und Messerstechereien aus, dass Hundertschaften Polizei den Park räumen und freihalten müssen. Mittlerweile wird in Politik und Verwaltung diskutiert, Parks wie den Simon-Park einzuzäunen und abzusperren.
Parks waren in ihrem Ursprung Rückzugsorte und Prestigeobjekte des Adels, später wurden sie Teil bürgerlicher Öffentlichkeit, wo der Bürger der Muße aber auch dem Austausch über öffentliche Dinge frönte und letztendlich wurde Park zum Ort der Erholung auch für das Proletariat und spätere Migrant*innen.
Die hier skizzierte Situation in Berlin ist der Anfang einer weiteren Deligitimierung von bürgerlicher Öffentlichkeit. Ohne diese aber keine funktionierende Demokratie. Als weiteres Beispiel kann die Usurpierung von Formen bürgerlichen Protestes durch Corona-Nazis gelten, die ihren bisherigen Höhepunkt in der versuchten Stürmung des Berliner Reichstages fand. Andere Beispiele können Sie der Tagespresse entnehmen, wie die Tatsache, dass immer mehr Menschen glauben, ihr vermeintliches Menschenrecht auf das Filmen von sterbenden Unfallopfern mit Gewalt gegen Rettungskräfte durchsetzen zu müssen. Die hilflosen Appelle aus Politik und bürgerlicher Presse, wir alle müssten in diesen harten Krisenzeiten zusammenrücken und den gesellschaftlichen Zusammenhalt stärken, sind in ihrer Naivität ein weiteres Indiz dafür: Hier zersetzt sich etwas aus der Mitte heraus, schleichender und unspektakulärer als es Corona, Inflation und Klima tun, aber schlimmstenfalls genauso nachhaltig.
Nahe dem Café Eule steht eine öffentliche Toilette, die ich vor ein paar Tagen aufsuchte. Das Urinal war randvoll, der Boden mit Seen voller Pisse übersät, überall aufgeweichte Klorollen und braune Haufen, die Hitze hatte einen derart bestialischen Gestank produziert, dass es mich rückwärts aus diesem locus terribilis herausprallte. Im Augenwinkel las ich noch ein Schild an der Wand: Andere Toilette wegen Vandalismus geschlossen. Ich verweigerte meiner Phantasie die Vorstellung, wie die wohl ausgesehen haben mag.

Hinterher im Café Eule, ich wollte mir ein Stück selbstgemachten Kuchen holen, saß aber kurz einfach da, starrte ins Grün und verharrte in einem Moment ermatteten Nichtbegreifens. Wirkungsvoller, nachhaltiger und lehrreicher als alle TV-Features und kluge Zeitungsanalysen über den Zustand der Gesellschaft sind solche Stadterfahrungen allemal, aber da hatte ich einfach nur das Gefühl: Ich bin reif für die Insel.
Die Zustände auf deutschen Flughäfen mitten im Hochsommer hätten mich aber ruckzuck wieder geerdet. Stand der Zivilisation ist das auch nicht.
05.07.2022 – Zwischenmeldungen von der Zivilisationsfront
Hinterlasse eine Antwort