16.08.2022 – Die Kernseife der Medaille


Das Pack, auf Tour. Plakat in Kreuzberg.
„Wir“ in Mitteleuropa, in der BRD, leben auf einer Insel der Glückseligen. Die Meisten jedenfalls, ca. 30 Prozent in Wohlstand, ca. 30 Prozent in der noch relativ gesicherten Fahrstuhlzone, wo Aufstieg nach oben möglich, aber Absturz nach unten wahrscheinlicher ist, 40 Prozent sind prekär, haben keine Rücklagen, sind verschuldet, arm. Aber im Weltmaßstab geht’s „uns“ Gold. Noch. Wir leben in Frieden, Freiheit, Wohlstand, Demokratie. Wir nennen dieses ganze Gesumse meistens Marktwirtschaft. Lieber nicht so, was es eigentlich ist: Kapitalismus. Das würde die Kinder vor dem Schlafengehen ängstigen. Kapitalismus hat einen Beiklang vom Schwarzen Mann, irgendwie gruselig, bedrohlich, nix genaues weiß man darüber nicht, wo kommt der her, was macht der so, was will der überhaupt. Aber Gutes ist von dem nicht zu erwarten. Das wabert diffus in der Mehrheitsgesellschaft so rum.
Die durchaus dankbar und erfreut ist, wenn in ihrer Bürgerpresse in der Sonntagsbeilage oder im Feuilleton der Chef einem rebellischen Jungredakteur Raum gibt, mal so richtig gegen den Kapitalismus abzuledern und dass man den doch mal irgendwie bändigen müsste, ihm Zügel anlegen oder gar menschlich machen sollte, denn es stünde ja die Zukunft auf dem Spiel und das böse Klima und die ganze Ungerechtigkeit etc. pp. Jaul, kreisch, jammer, Zetermordio. Würde Donald sagen.
Wäre ich Herausgeber dieses Organs, würde ich die rebellische Jungredakteurin zu mir rufen und ungefähr so sprechen:
„Junge Frau, was Sie in Ihrer Freizeit tun, ist mir egal, aber im Dienst unterlassen Sie bitte das Kiffen. Und beim Abfassen Ihres Artikels müssen Sie ja ganz offensichtlich bekifft gewesen sein, wie anders ist der Blödsinn, den Sie da verzapfen, zu erklären? Kapitalismus bändigen, Zügel anlegen, menschlich machen? Wollen Sie demnächst auch die Abschaffung der Schwerkraft fordern oder zu Hause in Ihrer Kifferhöhle Zahnpasta wieder in die Tube zurückdrücken? Der Kapitalismus ist seinem Wesen nach zerstörerisch, er beruht auf mörderischer Konkurrenz und Gier. Wenn das ausgeschaltet ist, heißt die Veranstaltung nicht mehr Kapitalismus. Demzufolge sind die heutigen Krisen, vor allem die Klimakrise, nicht mit den Mitteln des Kapitalismus zu lösen oder auch nur zu bändigen, im Gegenteil, er nährt sich von diesen. Bis zu seinem Untergang.“
Dann würde ich der hoffnungsvollen Jungredakteurin einen blauen Band über den Schreibtisch schieben. „Da steht das im Wesentlichen drin. Das Kapital. Von Karl Marx“. Und im Rausgehen würde ich ihr hinterherrufen:
„Sie werden Ihren Weg machen. Sie sind rebellisch. Das wird in unserem Hause geschätzt.“
Man soll das Personal ja auch loben. Ich halte das für Sozialklimbim. Aber wenn’s die Laune hebt. Und bevor sie endgültig draußen wäre, sie kennen diese Szeneabfolge ja aus Filmen, Hand auf der Türklinke und dann kommt noch ein Spruch, ein fundamentaler, der die Handlung vorantreibt:
„Ach, eins noch. Unsere Krisen, vor allem die Klimakrise, sind auch mit den Mitteln der Demokratie nicht mehr zu lösen. Das ist die Kernseife der Medaille.“
Schnitt.

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