29.10.2022 – Irgendwer muss immer die letzte Runde zahlen, im Wirtshaus wie im Leben.


14 Prozent mehr Einkommen in einem Jahr, Arbeitslosenquote 0,7 Prozent, Inflation 4,5 Prozent. Aus einer Werbebroschüre der damaligen SPD/FDP-Koalition vor der Bundestagswahl 1972. Gefunden im unerschöpflichen Fundus des Hermann Sievers AHH7. Heute haben wir massive Reallohnverluste von über 5 Prozent, die Arbeitslosenquote liegt bei 5,4 Prozent (die reale Unterbeschäftigungsquote dürfte wesentlich höher liegen, eher bei 8 Prozent) und die Inflation bei über 10 Prozent.
1972 war der Höhepunkt des hier mehrfach angesprochenen „Goldenen Zeitalter des Kapitalismus“, eine Reform (die damals den Namen verdienten) nach der nächsten, Ausbau Sozialstaat, höhere Einkommen, Ansätze zu mehr Geschlechtergerechtigkeit keimten auf.
73 läutete die Ölpreiskrise den mählichen Reform-Niedergang ein, der – über den tendenziellen Fall der Profitrate mit der Folge von Deregulierung, Privatisierung und Ausbau des Finanzsektors – in den totalen Triumpf des Neoliberalismus mündete nach dem Fall des Eisernen Vorhangs.
Nun ist das Modell des Neoliberalismus an sein Ende gekommen, beschleunigt durch multiple Krisen. Dessen zerstörerische Folgen werden sogar von Teilen des Marktes, (fragen Sie mich nicht, wer das eigentlich ist, es könnte länger werden bei der Antwort) nicht mehr akzeptiert, wie man am Scheitern der völlig durchgeknallte Prime-Minister-Trusse, genannt die „menschliche Handgranate“, in England sah.
Leider ist das mit dem Schwanengesang auf den Neoliberalismus keine frohe Botschaft. Irgendwer muss immer die letzte Runde zahlen, im Wirtshaus wie im Leben und vor dem, was nach dem Neoliberalismus kommt, kann einem nur grausen. Es glaubt ja beim gegenwärtigen Zustand der Gesellschaft niemand im Ernst an ein kommendes reales Reformzeitalter, siehe oben, gar an eine solidarische sozialökologische Wende. Hierzulande brennen wieder Flüchtlingsunterkünfte, die AfD und andere faschistoide Parteien steigen in der Wählerinnengunst, der Mob mobilisiert auch im Westen auf den Straßen spontan Tausende. Eine reale Linke, die den Namen verdient, zerlegt sich selber, Utopien sind Ramsch-Bückware unterm Ladentisch und die Zivilgesellschaft ist in nicht geringen Teilen (es gibt auch Ausnahmen) eine Ansammlung von trägen, feigen Opportunisten.
Ganze Kohorten haben heutzutage keine Vorstellung mehr davon, wie reale Reformen aussehen können. Hier ein Beispiel aus der Broschüre:

Die Überschrift wirkt natürlich aus heutiger Sicht skurril und lädt zu Schlüpfrigkeiten aller Art ein. Wenn man (!) sich allerdings die dort beschriebenen Maßnahmen vor Augen führt, ist das tatsächlich verglichen mit dem Vorher-Zustand eine epochale Reform-Zäsur: Neues Eherecht mit Fortfall des Schuldprinzips, § 218 Reform, Babyjahr, Mieterinnenschutz. Flankierend dazu eine Strafrechtsreform, Ostverträge etc. pp.
Bei der Wahl 1972 erreichte die SPD dann auch den größten Erfolg ihrer Geschichte, die Wahlbeteiligung war mit 91,1 Prozent die höchste in der Geschichte der BRD und die NPD verlor drastisch an Stimmen.
Und heute, 50 Jahre später, sind alte, weiße Männer nach wie vor allein damit schon überfordert, andere Geschlechter wenigstens auf sprachlicher Ebene in Erscheinung treten zu lassen.
Es kommt in letzter Zeit immer häufiger vor, dass ich bei den Nachrichten laut lachen muss.
Fröhlich bin ich dabei allerdings weniger.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert