18.12.2022 – Scham

BILD

Späthippies und Soldaten warten vereint im Hafen von Agios Stefanos, Korfu, auf eine Fähre zur Nachbarinsel. Ein zentrales Moment von Reisen ins friedliche Bild gerückt: Verbindung und Nähe als Grundlage für Kommunikation. Wer allerdings durch das Bild hindurch- oder über es hinaus schaut, fragt sich vielleicht: Wie ist es zustande gekommen?

Ich hab’s gemacht, wie 99,9 % aller Bilder hier, aus Lizenzgründen. Die Voraussetzung für die Existenz des Bildes war mein Flug. Ich bin geflogen. Habe ich deshalb Flug-Scham?

Im juste milieu der aktuellen Ökos, Alternativen, aufgeklärten Akademixe bis weit hinein ins liberale Bürgertum gehört es seit langem zum guten Ton, Flugscham zu haben, wg. CO2 und Rettung der Welt: „Ich fliege leider noch, find’s aber Scheiße, kompensiere, und bin dabei, es zu reduzieren und mir abzugewöhnen.“ Siehe auch Auto-Scham, Fleisch-Scham und Rauch-Scham.

Wie oft, wenn es etwas zum guten Ton im geschilderten Milieu gehört, ist das nicht zu Ende gedachter Blödsinn.

Verdeulicht wird das an folgender Grenzwert-Diskussion: Gesetzt den Fall, innerhalb Europas wird von einem Tag auf den anderen nicht mehr geflogen, sei es aus Überzeugung oder Verbot. Innerhalb kürzester Zeit würde die Wirtschaft in der gesamten Küstennahen Mittelmeerregion zusammenbrechen, ganze Volkswirtschaften gingen in die Knie und müssten mit Unterstützungsfonds aufrechterhalten werden, die selbst die EU nicht finanzieren könnte. Beispiel Griechenland: Der Anteil des Tourismus am BIP beträgt 20 Prozent, Tendenz rapide steigend, die Urlaubsregionen sind komplett von ihm abhängig. Zum Vergleich: Der Anteil der Autobranche am BIP in Deutschland beträgt keine 5 Prozent. Stünde die hier zur Disposition, gäbe es einen Bürgerkrieg. Es würde also eine EU-Binnenarmutsmigration von nie gekanntem Ausmaß von der Mittelmeerregion zu „uns“ einsetzen.

Im ersten Jahr würden Millionen Urlaubssüchtige versuchen, mit dem Auto in die heißgeliebten Destinationen zu kommen. Spätestens, wenn die ersten 2 – 3.000 km langen Staus von Berlin nach Barcelona, von Aachen nach Athen desaströse sozialökologische Spuren hinterlassen, hat sich der Unfug erledigt. Die Betuchteren, auch ein Millionenheer, fliegen nach Übersee und geben dort den Malediven, Andamanen oder Tongainseln innerhalb eines Jahres mehr als jeder Tsunami den Rest. Die ärmeren Schweine, ein weit größeres Millionenheer, machen Zuhause Urlaub. Eine wundervolle Vorstellung, wie jetzt schon überlastete Nord- und Ostseeküsten in kürzester Zeit in Schutt und Asche gelegt werden und nach zwei Jahren aussehen wie die Wüste Gobi, oder in der Mark Brandenburg ein Gedränge herrscht wie beim Münchener Oktoberfest.

Mit dem Zug fahren? Zur Visualisierung dieses Dystopie schauen Sie sich im Internet die Bilder von indischen Zügen an, wo hunderte auf den Dächern hocken, und multiplizieren das mal 10.

Von Kollateralschäden des Nichtreisens will ich hier gar nicht reden, wodurch die hiesigen Volksgenossinnen noch ignoranter im Kopf werden als eh schon, weil ihnen der letzte Rest von Weltläufigkeit auch noch genommen wurde.

Jetzt höre ich das Milieu protestierend murmeln: Ja, aber wir müssen doch langfristig an Konversion denken, andere Wirtschaftszweige vor Ort entwickeln und implementieren.

Also „wir“ schon mal gar nicht. Ich würde mich schämen für soviel Arroganz aus einem Land, das immer riesigere Straßenpanzer, vulgo SUVs, baut, sich einen Scheißdreck um irgendwelche nachhaltigen Konversionen kümmert und nach wie vor die Welt am doitschen Wesen genesen lassen will.

Eine langsame, eventuell funktioniernde Konversion würde sich über Jahrzehnte hinziehen und dann sind eh Szenarien real, von denen wir uns keine Vorstellung machen.

Schämen sollte sich das geschilderte Milieu allerdings tatsächlich. Aber für sein Verhalten, und zwar für die Frechheit, öffentlich mit derart aus freien Stücken gewähltem, unreflektiertem dummen Zeug hausieren zu gehen, während hierzulande ein wachsendes Millionenheer sich seit Jahren weder Auto noch Flüge und mittlerweile auch kaum noch Fleisch leisten kann.

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