
Lichtblick an einem düsteren Haus. Bei mir umme Ecke, ich weiß bis heute nicht, ob das leer steht oder bewohnt wird. Irgendein Genie hat das Kunstwerk über die Tür gehängt und so das Haus in einen völlig neuen Kontext katapultiert, von Trostlosigkeit zur Installation, Hoffnungsschimmer.
Es gibt Menschen, die ähnlich fungieren. Lichtblicke in einem Meer von Finsternis. Schimmer von Hoffnung in düsteren Zeiten. Wie kommen solche Leute zu ihren Ideen, Gedanken, zu ihrem Leben?
Und, in Konsequenz, damit das nicht luftleer im Theorieraum schwebt: Was hat das mit meinem, mit Ihrem Leben zu tun?
Mein Verdacht ist: Kühnes Leben, kühne Gedanken.
Nehmen wir den Fall Wilhelm Reich. Einer von maximal vier, fünf Autor*innen, die bei mir bleibenden theoriebildenden Eindruck hinterlassen haben.
Wilhelm Reich war ein austroamerikanischer Arzt, Psychiater, Psychoanalytiker, Sexualforscher und Soziologe. Als Kind erzeugte er ungewollt eine Ehekrise, als deren Folge Reichs Mutter Suizid verübte und sein Vater depressiv erkrankte und 1914 starb. Der siebzehnjährige Reich musste als Vollwaise diese Tragödien verarbeiten und zugleich die Leitung des elterlichen Gutsbetriebs übernehmen. Kurz nach Beginn des Weltkrieges wurde Reich, säkularer Jude, wegen einrückender russischer Truppen zur Aufgabe des Guts und zur Flucht gezwungen Er wurde Mitglied der KPD, fand in den Zwanzigern Zusammenhänge zwischen psychischen und muskulären Panzerungen, gründete mit anderen kommunistischen oder sozialdemokratischen Ärzten in verschiedenen Stadtteilen Wiens Sexualberatungsstellen. Für seine aufklärerische und praxisorientierte Verknüpfung von Marxismus und Psychoanalyse wurde er aus der KPD ausgeschlossen, seine Bücher wurden von den Nazis verbrannt. Die Freudianer (Freuds Tochter) schlossen ihn nach einer Hetzkampagne aus ihren Reihen aus wegen Politisierung. Er emigrierte in die USA. Dort driftete er mit seiner Orgontheorie ins esoterische ab und wurde im Verlauf der McCarthy Verfolgungen in den Knast gesteckt, was er nicht überlebte. Er starb 60jährig an gebrochenem Herzen. Auch in den USA wurden seine Bücher verbrannt.
Seine „Massenpsychologie des Faschismus“ war eine bahnbrechende, fach-übergreifende Analyse des Faschismus. Für „Die sexuelle Revolution“ wurde er in den Sechzigern in der BRD wiederentdeckt. Reich ist Begründer der körperorientierten Psychotherapie und gehörte sowohl für die radikale Linke 68ff. als auch für die New Age Bewegung zu unverzichtbaren Gründungsikonen.
Die befreite Individualität des Einzelnen, in einer befreiten Gesellschaft – das trug ihm Hass und Verfolgung aller Dogmatiker und Fanatiker ein. Wer kann schon von sich behaupten, sowohl von den Nazis als auch den Amis verbrannt worden zu sein?
Ein kühnes Leben, kühne Gedanken (natürlich ohne Zustände herbei zu wünschen, die Reichs Leben bestimmt haben!). Hätte er sein ganzes Leben Klimmzüge an der eigenen Stadtmauer gemacht und seine Nase nur in Bücher gesteckt, wäre sicher nicht das dabei heraus gekommen, was wurde. Und die Moral von der Geschicht? Friedrich Hölderlin gibt einen Hinweis: „Komm! ins Offene …. !“
Reich ist heutzutage weitgehend vergessen. Radikaler, Ex-Kommunist, Esoteriker, das ist ein bisschen viel für unseren an Konsens, Harmonie und Wohlklang orientierten Mainstream. Fazit zu Reich: Wer zwischen allen Stühlen sitzt, liegt meistens richtig.
Demnächst in loser Folge mehr zu: Kühnes Leben, kühne Gedanken.