09.04.2023 – Haltstelle Varian-Fry-Str.

Potsdamer Platz. Immer wenn ich vom Berliner Hauptbahnhof den Bus nach Kreuzberg nehme, stellt sich an der zweiten Haltestelle, nach dem längsten deutschen innerstädtischen Autotunnel, das Gefühl von Ankommen ein. Es ist die Haltestelle Varian-Fry-Str. links ausserhalb des Bildes, am Potsdamer Platz. Der ein gelungenes Beispiel der Divergenz von gelungener Architektur und misslungenem Städtebau ist. Das Hochhausensemble dort ist kühn gestaltet, metropolitane Architektur, und im sonst wie ein Pfannkuchen platten Berlin ein Blickfang, egal ob ich vom Kreuzberg oder Klunkerkranich aus schaue. Städtebaulich, also gedeihlich organisiert für das gute Zusammenleben der Menschen, dagegen ist er ein Desaster, Anziehungsort nur für Touris. Für Eingeborene gibt es kein Argument, sich dort aufzuhalten, außer sie wollten in die Spielbank oder ins Zweisterne-Restaurant Facil. Der Potsdamer Platz ist genauso ein Un-Ort wie zur Zeit der Mauer, nur bebaut und ohne Schussfeld. Für mich nach wie vor ähnlich faszinierend wie Marzahn oder Neuköllner Gropiusstadt. Wohin sich aber eher keine Touris verirren.

Mitten in diesem Metropolenbabylon also die Haltstelle Varian-Fry-Str. Der Name weckt allein auf Grund seines exotischen Englischgehaltes, anders als beispielsweise John F. Kennedy-Platz, Interesse. Was ja auch ein Grund ist, sich freiwillig und gerne an fremden Orten aufzuhalten: Erkenntnisinteresse. Mir war Varian Fry bis dato unbekannt.

Er war 1994 der erste und bis 2005 einzige US-Bürger, der unter die Gerechten unter den Völkern in Israels Holocaust-Mahnmal Yad Vashem aufgenommen wurde. Im zweiten Weltkrieg rettete er unter Einsatz seines Lebens über 2000 Naziverfolgte im besetzten Frankreich. Ohne ihn wäre ein nennenswerter Teil der bürgerlichen deutschen Kultur- und Geistesgeschichte in Auschwitz gelandet: Hannah Arendt, Max Ernst, Lion Feuchtwanger, Siegfried Kracauer, Alma Mahler-Werfel, Heinrich Mann und Golo Mann, Walter Mehring, Alfred Polgar, Franz Werfel. Aber auch u. a. André Breton und seine Frau Jacqueline, Marc Chagall, Marcel Duchamp.

Nach dem Krieg geriet er in Vergessenheit und starb 1967, 60jährig. Im gleichen Alter wie Wilhelm Reich ….

Nach seiner Rückkehr in die Vereinigten Staaten im September 1941 wandte er sich an Künstler, die er gerettet hatte, darunter Marc Chagall, Max Ernst und André Breton, und bat sie, ein neues Hilfsprojekt für Exilanten zu unterstützen – vergebens. Marc Chagall war offensichtlich nicht nur ein inferiorer Pinselquäler, dessen Sakralkitsch die Grenze des Zumutbaren sprengt, sondern auch ein veritables Arschloch.

Auch Varian Fry hat ein kühnes Leben gelebt. Es gibt eine wohl gelungene Netflix-Serie namens „Transatlantic“ über ihn und seine Helfer*innen, in der auch Walter Benjamin eine Rolle spielt. Er wurde tragischerweise nicht gerettet, ist aus meiner Sicht der überragende Protagonist in der Reihe „Kühnes Lebe, kühne Gedanken“ und wurde noch nicht einmal 60 wie Wilhelm Reich und Varian Fry. Zeichnet sich da ein Muster ab? Später, im Rock ‘n Roll hieß es ja. Live fast, die young.

Den Absprung hab ich wohl knapp verpasst.

Die Serie Transatlantic würde ich mir gerne anschauen, besitze allerdings keinen Netflix-Account und schaue niemals Serien. Bis auf eine Ausnahme, und die wiederholt seit vielen Jahren.

Jetzt muss ich mich aber um meine Kohlrabi-Setzlinge kümmern.

Allen noch Rohe Eiertage.

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