04.05.2023 – Gehen Sie mal mit einer Kippa durch Neukölln

Columbiahalle, Kreuzberg Ecke Tempelhof. Ikonische Schönheit der Fünfziger. Vor sowas könnte ich stundenlang verweilen, ein Profanbau mit sakraler Aura. Diese Komposition aus üppig geschwungenen Rundungen des Gebäudekorpus und der nüchternen Winkligkeit des Eingangs ist ein rarer Glücksfall für Ästheten. Auch das eine metropole Kathedrale. Was da sonst so in Berlin aktuell oft gebaut wird, ist eine gesichtslose, austauschbare Schande, getrimmt auf Effizienz und Funktionalität und zerstört mittelfristig den Charme der Hauptstadt mit ihrer dezentralen Vielfalt und Diversität. Allein der Rundblick im Ankommen am Hauptbahnhof ist ein deprimierender auf lauter 08/15 Einheits-Quader, wäre da nicht die Sichtachse auf Reichstag, Kanzleramt und Schweizer Botschaft.
Aber die Kritik am Städtebau ist bekannt, da haben schon Kompetentere als ich was zu geschrieben. Kritik: Zu meiner Kritik an der DGB-Latschdemo der Generation „Hackenporsche“ am 1. Mai gebührt der Wahrheit die Ehre zu geben und zu erwähnen, dass ich selber dieser Generation angehöre und nicht nur seit Jahrzehnten kaum eine DGB-1. Mai-Latschdemo versäumt, sondern vielmehr mehrfach als Mairedner zumindest in kleineren Städten in Niedersachsen versucht habe, die proletarischen Massen zum Klassenkampf zu agitieren. Was nie erfolgreich, aber mir stets ein Vergnügen war. Und Erkenntnis, wurde ich doch so agierender, eingreifender Zeitzeuge der absterbenden letzten Rituale der Arbeiter*innenbewegung, ohne die die Republik nicht das wäre, was sie ist im positiven Sinn. Und den hat sie bei aller Kritik. Lohnfortzahlung im Krankheitsfall, 5-Tage Woche, demnächst 4, existenzsichernde Löhne zumindest für den Großteil der Tarifbeschäftigten, Ansätze von Gleichberechtigung usw. usf., ohne die Existenz von Gewerkschaften wäre unsere Gesellschaft ein Ort schrankenloser Ausbeutung durch das Kapital.
Insofern ist der aktuelle Bedeutungs- und Funktionsverfall der Gewerkschaften, der sich in der, von mir polemisch sur le point gegarten, Überalterung ihrer aktiven Klientel nur unzureichend widerspiegelt, eine höchst bedenkliche und radikal zu kritisierende Zeiterscheinung. 30 Prozent Mitglieder weniger in den letzten 20 Jahren.

Bei der evangelischen Kirche übrigens ähnlich, etwas weniger bei den Katholiken, allerdings mit wachsender Tendenz. Zugenommen hat migrationsbedingt die Zahl der Muslime und der Orthodoxen. Dass diese wachsende Diversität einen Beitrag zu mehr Fortschritt und Emanzipation in unserer Gesellschaft geleistet hat, kann allerdings nur behaupten, wer mit einer rosaroten Brille in einer Welt vor 30 Jahren lebt. Oder in einem Schickimickiviertel mit einem drastisch unterdurchschnittlichen und nicht repräsentativen Migrationsanteil. Gehen Sie mal mit einer Kippa durch Neukölln, dann werden Sie verstehen, was ich meine. Oder predigen Orthodoxen Gleichberechtigung von Frauen, Minderheiten, LGBTQ … Mit der Diversitätskultur ist das eben so eine Sache. Auch diese muss einer radikalen und offenen Kritik unterzogen werden, verhindert sie doch in ihrer ausufernden und ausgedehnten Beliebigkeit des „Jede ist eine Benachteiligte“ kollektive Gegenwehr gegen einen klar konturierten Gegner, das Kapital. Wohingegen die Diversitätsapostelinnen hinter jeder Ecke und Äußerung Diskriminierung wittern. Aber wo alles möglich ist, ist letztlich nichts mehr greifbar.
Soweit zur Konkretion der Kritik. Grundsätzlich ist die edelste und radikalste Form der Kritik, und der Reflexion, die Selbstkritik und Selbstreflexion. Durch die scharfen Konturen der radikalen Kritik der Verhältnisse, und die Kritik kann nur radikal sein, denn die Verhältnisse sind es, die radikal sind, sollte immer die eigene Position schimmern, wie die Morgenröte im Tau des beginnenden Tages. Mehr Poesie krieg ich heute nicht in die Tasten gezimmert. Ende Gelände erstmal. Profanes zum Schluss: In der Columbiahale habe ich mal UB40 gehört. Glaube ich. Es waren die Achtziger …Von den Gruppen, die da heute auftreten, kenne ich nicht eine einzige mit Namen.

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