08.05.2023 – Über das Phänomen der ruckartig sich umdrehenden Köpfe

Der niedersächsische Ministerpräsident Stephan Weil beim Jahresempfang des Katholischen Büros, der Lobbyvertretung der katholischen Kirche im parlamentarischen Raum. Kein Ministerpräsident, egal in welchem Bundesland, würde es sich nehmen lassen, das Grußwort bei dieser Gelegenheit zu sprechen, und zwar jedes Jahr. Bedeutungsverlust der Kirchen in säkularen Zeiten hin oder her, sie haben nach wie riesigen Einfluss und Gestaltungsmacht und sind zentrale Akteure nicht nur in der Sozialpolitik. Ihre Wohlfahrtsverbände Caritas und Diakonie mit Kitas, Heimen, Krankenhäusern, Beratungen etc. pp.  sind die größten Arbeitgeber im Land. Die personellen Verbindungen, materiellen Interessen und ideologischen Übereinstimmungen der Eliten der Gesellschaft von Kirche und Staat gehören nach wie vor zu den Fundamenten der Demokratie. Vor aller berechtigten Kritik daran gehört die Kenntnis dieser Zusammenhänge zum Grundwissen von Demokratietheorie, politischer Theorie schlechthin.

Und so ist es professionelle Notwendigkeit für sozialpolitische Akteure, bei solchen Anlässen Flagge zu zeigen, sich den Arsch breit zu sitzen, beim Büffet die Ellbogen auszufahren (katholische Büffets sind die besten, das diesbezügliche ungenießbare Grauen obwaltet bei Gewerkschaften) und mit befreundeten Anwesenden über den Rest der Gesellschaft zu lästern. Man nennt das Netzwerken.

Hier werden eher selten direkte Entscheidungen getroffen, dafür sind nach 22 Uhr einige Protagonisten zu besoffen, die Alkoholismus-Quote unter Parlamentarier*innen, und im vorliegenden Fall in der katholischen Kirche, dürfte überdurchschnittliche hoch sein. Hier wird nicht geerntet, sondern eher die zarte Saat ausgesät.

Außerdem ist das hochinteressanter soziologischer Anschauungsunterricht über den Habitus unserer Eliten, zumindest für jemanden wie mich, der nicht dazu gehört: wie reden die, welches kulturelle Setting herrscht da vor, was ziehen die an., etc. pp.  Soziologie des Alltags, die mehr Erkenntnis vermittelt als Bände voller Ideologiekritik und schlaue Zeitungslektüre.

Es gibt neben Grußworten bei sowas auch immer eine Art kulturelles Rahmenprogramm, z. B. Festvorträge von Ex-Süddeutsche Heribert Prantl, in der rebellischen Version Richard David Precht und in frauenbewegten Zusammenhängen von Alice Schwarzer, wobei die letzteren jetzt eher weniger gefragt werden, weil sie einen Tick zu weit weg vom bellizistischen Mainstream sind. Sowas bedeutet mitunter nennenswerte materielle Einbußen, die Honorare bei den Elitenverbänden für solche Jobs betragen mehrere tausend Euro. Pro Abend, nicht im Jahr. Precht und Schwarzer werden es überleben.

Michael Berger und Bettina Tietjen beim Empfang des Katholischen Büros im, so der offizielle Titel: „Gespräch über Gott und die Welt“. Michael Berger war Leiter der landespolitischen Redaktion der Hannoverschen Allgemeinen Zeitung und Bettina Tietjen ist Talkshowmasterin des NDR. Berger ist noch nie auch nur durch den Hauch eines kritischen oder gar originellen Gedankens aufgefallen, er oszilliert zwischen gediegenem sakkogestützen Konservatismus und Alter-Sack-Reaktionär. Einlassung beim Empfang: „Die heutige politische Korrektheitspolizei (Gendersprache, ick hör dir trapsen, d. A.) erinnert mich an die DDR und Stasi 2.0“

Tietjen moderiert in ebenso unorigineller, unkritischer und völlig überdrehter Schwatzhaftigkeit kumpelhaft alles weg, was ihr vor die Mikrofone kommt. Eher ist ein Tsunami mit einer Schöpfkelle aufzuhalten als ihr Sprechdurchfall. Eitel und kokett ihre Einlassung: „Huch, ich rede schon wieder so viel. Soll ich eine Pause machen oder aufhören?“

Kurz, leider nicht halblaut, eher vernehmlich die meinige dazu: „Ja bitte, es wäre eine Erlösung“.

Das Phänomen der ruckartig sich umdrehenden Köpfe kenne ich schon.

Es wurde trotzdem noch ein schöner Abend. Ich musste nur drauf achten, meinem befreundeten Nachbarn ab und zu den Ellbogen die Rippen zu rammen. Der zieht bei sowas immer die Notwehrkarte und pennt regelmäßig ein. Wir haben ein Agreement: Wenn er anfängt zu schnarchen, gibt’s den Ellbogen. Dafür holt er unseren ersten Wein vom Büffet.

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