09.06.2023 – Über gesellschaftliche Normen

Yorckschlösschen, Kreuzberger Institution, Live Club und Biergarten. Hier hat sich seit den 70ern nichts verändert. Neulich wollten wir dahin. Am Fenster im Parterre unseres Hauses saß Dieter und rauchte. Wir hielten kurz an: „Na, wie isses?“ Er klang unbegeistert: „Was soll’s. Muss ja. Nächste Woche im Bundeswehrkrankenhaus. Die wollen da nochmal was machen.“ Dieter hat Krebs, unheilbar, vom Scheitel bis zur Sohle. Noch ein paar Monate. Man hat ihn aus dem Knast entlassen, Haftverschonung, damit er Zuhause sterben kann. Seine Frau bemüht sich auch um Hafturlaub, um ihn zu besuchen. Dieter, seine Frau und sein Zuhause lebender Sohn haben ein Familienunternehmen gegründet. Drogenhandel. Unabhängig vom „Druckfesten“, Jahre nach ihm. In derartigen Mengen, dass die ganze Familie ohne Bewährung in den Bau einfuhr, nachdem sie erwischt wurde.

Dieter und der Druckfeste sind ganz normale Leute, keine Dealer a la Altfreak mit langen Haaren und Lederjacke oder Neondealer mit Ray-Ban-Sonnenbrille und Gelhaar-Hackfresse. Sie handelten einfach einer gewissen Logik und gesellschaftlichen Norm entsprechend. Die Perspektive eines Lebens als Groß- und Einzelhandelskaufmann in Legebatterieähnlichen Großraumbüros oder als Staplerfahrer in vesifften Fabrikhallen erschien ihnen wohl offensichtlich so wenig verlockend, dass sie ihr Erwerbs-Portfolio erweiterten, gemäß dem Motto: Ist der Handel noch so klein, bringt er doch mehr als Arbeit ein.

Hand aufs Herz respektive aufs Portemonnaie: Wer von uns Normalos hätte nicht schon mal von einem Leben in Saus und Braus, Luxus und Dekadenz geträumt? War früher, in der Phase des Wiederaufbaus nach dem Krieg und der Stabilisierung unserer Gesellschaft, gesellschaftliche Norm der Konsumverzicht, das Sparen, der Triebaufschub – „Spare in der Zeit, dann hast Du in der Not“, die klassisch protestantisch-kapitalistische Verzichtsethik – so trat mit wachsender Demokratisierung ab den 70ern Konsum in den Vordergrund. Man gönnte sich wieder was. Demokratie und Konsum sind untrennbare zwei Seiten einer Medaille. In späteren Phasen entwickelte sich schamlos zur Schau gestellte Dekadenz von überschießendem Luxus und Prasserei als permanent medial verbreitetes gesellschaftliches Leitbild, verknüpft mit grenzenloser Verachtung für alles, was nach Armut und Prekariat riecht. Man schaue nur mal 30 Sekunden in die Fratzen der Millionärsfamilie Geissen , ein TV-Sozialpornoformat der übelsten Sorte. Läuft seit 2011.

Wer wollte es also den Druckfesten und Dieters dieser Welt verübeln, wenn sie versuchen, auf ihre Weise ein Stück vom goldenen Kuchen abzubekommen. Nicht immer nur Schwarzbrot.

Und wer ab und zu mal einen Joint raucht und einen Beutel Gras für nen Zwanni beim Kumpel kauft, sollte sich klarmachen, dass das Zeug nicht abgepackt in Plastiktüten von Rosinenbombern abgeworfen wird, sondern auf üblichen Handelswegen in Verkehr gebracht wird, auch in großen Mengen. Vielleicht wird das durch die Legalisierung von Marihuana mit nachfolgender Subsistenzwirtschaft und lokalen Selbstversorgungsstrukturen etwas besser, aber bis dahin gelten die Gesetze des Handels, auch für Illegales. Es gibt keine rauschfreie Gesellschaft und hier erfüllen Dealer wie der Druckfeste und Dieter eine nicht akzeptierte, aber notwendige Funktion. Siehe auch Prostitution.

Die Geschichte des Druckfesten kenne ich schon länger, wir verklappen ab und zu zusammen vor dem türkischen Imbiss in unserem Haus ein Bier. Aber nachdem ich die Geschichte von Dieter erfahren hatte, hab ich doch mal vorsichtig nachgefragt: „Es gibt aber schon noch Leute im Haus, die nicht kriminell sind?“

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