10.06.2023 – Bitte nichts anfassen, abpflücken oder die Insassen füttern.

Wichtelmännchen mit Natur. Dieses kleine Fleckchen Erde vor dem türkischen Imbiss, von uns liebevoll Hades genannt, in unserem Haus ist ein winzigkleiner Beitrag zur Entsiegelung der völlig zubetonierten Asphaltwüste Kreuzberg. Hier kann ein bisschen Regen natürlich versickern und nicht Sturzflutengleich nach Wolkenbrüchen den halben Kiez überschwemmen. In Kreuzberg leben über 14.000 Menschen pro Quadratkilometer, zum Vergleich in Hannover gerade mal 2.600. Insofern ist das Stück Natur mit Wichtelmann, das mich in seiner rührenden, einsamen Hingeducktheit inmitten der Benzinhölle der von 60.000 Autos täglich durchtosten Yorckstraße an eine Kunstinstallation erinnert, auch Ausdruck einer Sehnsucht. Nach Natur, Lebendigkeit, nach Normalität. Manchmal, wenn ich mit ein paar Leuten aus dem Haus bei Bier und Pizza in der untergehenden Abendsonne davorsitze, denke ich, ich müsste dem Ganzen hier, dem Haus, den Menschen, dem Wichtelmann, eine Art Denkmal setzen. Wobei das zu hoch, zu pathetisch klingt. Es geht mehr um das Erinnern, damit ein Stück Anderssein nicht in der Vergessenheit verschwindet. Alles, was ein bisschen dem extremen Konformitätsdruck entgegensteht, dem Angepasstsein, der Unterordnung unter die normierte Verwertungslogik des Kapitals, dem Funktionieren-Müssen, der Standardästhetik des rechten Winkels, verdient der Beachtung, der Wertschätzung. Ohne es zu romantisieren und zu verkitschen.

Das wär’s ja noch, aus dem Haus ne Freakshow gegen Eintritt zu machen, mit Führung:

„Und hier meine Damen und Herren, sehen Sie noch ein komplett erhaltenes Ensemble unangepasster Existenzen und Lebensformen inmitten der durchgentrifizierten Hipsterhölle von Kreuzberg. Bitte nichts anfassen, abpflücken oder die Insassen füttern. Über eine kleine Spende im Hut auf dem Bistrotisch freuen die sich. Dieses Ensemble wurde von der rotgrünen Bezirksregierung Kreuzberg-Friedrichshain in die Milieuschutzverordnung aufgenommen. Damit sind die Bewohner*innen des Hauses städtische Angestellte, deren Aufgabe es ist, das Ensemble im Zustand wie besehen zu erhalten.

Und nun folgen Sie mir bitte in den gegenüberliegenden Möckernkiez, ein Beispiel gut funktionierender Genossenschafts-Wohnkollektive für junge aufstrebende Familien, Start-Up Gründerinnen und Kulturschaffende. Im veganen Eiscafé machen wir eine kurze Pause und informieren uns über Möglichkeiten der Mehrgenerationen-Genossenschaftsgründung. Diese Modelle sind steuerlich begünstigt, werden vom Berliner Senat gefördert und daher beträgt der Einstandspreis als Genossenschaftsmitglied nur 2.000 Euro pro qm Mietfläche…“

Viellicht mache ich doch einen Spielfilm draus, der Appetit kommt beim Schreiben. Ursprünglich dachte ich an einen Dokumentarfilm, aber hat was von Vorführen und die Anwesenheit des Filmers verändert das zu dokumentierende Objekt, die Subjekte sowieso, bei aller mittlerweile vorhandenen Vertrautheit.

Aber so ein satirisch angehauchter Film, über Kreuzberg im Jahre 2030, das hätte was. ich würde auch gerne eine Rolle darin spielen. Den Fremdenführer. Das mit der Rolle krieg ich hin. Als Drehbuchautor und Regisseur hätte ich einen gewissen Einfluss auf die Rollenbesetzung.

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