13.06.2023 – Über den Begriff der Aura

Peter Popstar, SCHUPPEN 68, erste Satire-Partei der BRD, im Straßenwahlkampf 1991.

An unserem Wahlstand gab es keine Kulis, Fähnchen oder gar Lächerliches wie Wahlprogramme, sondern ausschließlich Freibier und Erbsensuppe. Das war auch unsere einzige flächendeckend plakatierte Forderung: Freibier und Erbsensuppe. Zu einem Zeitpunkt, da der Begriff „Populismus“ von den meisten für die Bezeichnung für krankhaftes Nasebohren gehalten wurde, hatten wir als bewusste Vorhut und Avantgarde der Arbeiterklasse antizipiert, dass Populismus als Folgeerscheinung der Annexion der Ostzone und vom grenzenlosen Siegeszug des entfesselten neoliberalen Kapitalismus ein flächendeckendes Phänomen werden würde. Demzufolge steigerten wir die leeren Worthülsen des bürgerlichen Wahlkampfkaspertheater ins Platt-Populistische: Freibier und Erbsensuppe. Panem et circensis. That’s all.

Unser Wahlkampf stand vor einer Wäsche-Reinigung (!) namens Stichweh (!!), was schon mal schwer symbolisch aufgeladen war. Nebenan ein Discounter, aus dem wir palettenweise Freibier schleppten, was sich auch ohne soziale Medien in Sekunden unter den Mühseligen und Beladenen, Wohnungslosen und Kampftrinkern des Kiezes rumsprach. Wir tanzten fröhlich und volltrunken im Takt von Arbeiterliedern dazu. Bei den anderen Wahlständen nebenan, mit Kulis, Fähnchen, Wahlprogrammen, war tote Hose. Vom Stand der Arbeiterverräter, vulgo SPD, pöbelte ein schwer gestörtes Subjekt, das sich selber als „Der letzte Marxist im Kiez“ bezeichnete, herüber: „Die SPD hat in den letzten 125 Jahren immer die Fahne der Arbeiterklasse hochgehalten“, worauf ich zurückbrillierte: „Und die nächsten 125 Jahre machen wir das“.

Der wahre Gott des Straßenwahlkampfes aber war Peter Popstar. Er tanzte, immer vorweg und immer aus der Reihe. Er hatte das, was uns anderen fehlte: Charisma. Die Aura des Komödianten. Das könnte man seitenlang, unter anderem mit dem Rückgriff auf den Begriff der Aura bei Walter Benjamin erklären, wir belassen für heute dabei: Aura wirkt ohne Wort, Erklärung, Aktion. Der auratische Komödiant wirkt bereits, wenn er nur dasteht. Nichts was man lernen, erwerben könnte. Greta Garbo, Cary Grant, Humphrey Bogart z. B. hatten eine je spezifische Aura.

Danach trennten sich die Wege des Kollektivs. Es gab noch andere, die nicht im Bilde waren, derer hier aber gedacht werden soll. Mit einigen stehe ich noch in Verbindung, so mit Peter Popstar, der diesen Kampfnamen gehasst hat und mir freundlicherweise die Bilder zur Verfügung gestellt hat. Wofür es bei Gelegenheit ein Freibier gibt. Beste Grüße an die Waterkant.

Ich glaube, diese Wahlkampfgeschichte war für alle Beteiligten eine auratische Angelegenheit. Ohne den Sinn oder Unsinn dieser sozialen Intervention in allen Details zu erinnern oder zu begreifen, strahlt sie in der Erinnerung Momente von Freiheit und Anarchie, von einer Möglichkeit jenseits des Alltags aus. Transzendenz im Politischen. Ganz abgesehen davon, wie gottverdammt Recht wir mit unserer Einschätzung hatten. Populismus ist flächendeckendes Stilmoment in der politischen Landschaft von Heute und diejenigen, die man damals populistisch hätte nennen können, sind heute Faschisten reinsten Wassers. Soviel zur Verschiebung des Koordinatensystems.

Bleibt die Frage, warum wir bei soviel Genialität in der Folge nicht groß rauskamen. Es lag wohl an vier Gründen: Mangel an Ehrgeiz, Fleiß, Disziplin und Talent. Sieht man von Ausnahmen ab.

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