
Imbiss vor unserem Haus in Kreuzberg. Natürlich türkisch, ist ja Kreuzberg. WG-intern nennen wir ihn Hades, nach dem Ort der griechischen Unterwelt. Unser Hades ist ein sehr niedrigschwelliger, preisgünstiger Treffpunkt für die Mühseligen und Beladenen aus dem Haus und der nahen Umgebung, die sich in den mehr oder weniger schicken Straßencafés im gentrifizierten Bergmannkiez um die Ecke die teuren Latte Macchiato nicht leisten können. Und selbst wenn sie könnten, nicht leisten wollten, hegen sie doch eine instinktive und wohlbegründete Abneigung gegen die einheimischen Hipster dort oder gegen die Myriaden aufgeregt-aufgetakelter Touristinnen, sind jene doch äußere Erscheinung des Gentrifizierungsdrucks auf die ganze Gegend. Und auch sonst meistens nicht ganz dicht in der Birne. Latte Macchiato heißt übrigens „gefleckte Milch“, was irgendwie passt, kann ja mal passieren, wenn man in der Frühe verschlafen bei so einem Morgen-Latte nicht aufpasst.
Der Hades ist Ort der Kommunikation, der Information, der Nachbarschaftshilfe. Hier finden auch Menschen mit sehr wenig Geld, Bürgergeld, Grundsicherung, mies bezahlten Prekärjobs, das, was ihnen von der Gesellschaft verweigert wird, was aber den Kern ihrer Menschenwürde ausmacht: Gesellschaftliche Teilhabe.
Unser Haus wurde unlängst an einen Investor verkauft. Das bedeutet absehbar Unsicherheit für alle im Haus. Was passiert? Umwandlung in Eigentumswohnungen? Modernisierung und Umlegung der Kosten auf Mieter*innen? Wie hoch, wie unbezahlbar werden die Mieten? Das, ein möglicher Wohnungsverlust, kann zu einer existentiellen Katastrophe für manche werden. Aussage eines Anwohners: „Lebendig kriegen die mich hier nicht raus.“
Für Gewerberäume wie den Hades gelten andere Regeln als für Wohnungen. Dort kann das Ende schnell kommen. Das wäre ein soziales Desaster für die Mühseligen und Beladenen. Es gibt zwar jede Menge Spätis in der Gegend, aber die sind kein Ersatz. Mit einer Bierpulle und Chips vor einem Späti abzuhängen ist eine andere Nummer, als gepflegt vor dem Hades zu sitzen und als Krönung der Woche sogar auf eine Pizza für 8,50 Euro zu warten. Nach dem Späti kommt nur noch die Parkbank, der Hades lässt alle Optionen offen.

Jetzt hat der Hades erstmal zu. Der Besitzer fährt den Sommer über mit seiner Familie in das türkische Heimatdorf. Oje. Ein Leben ohne Hades ist machbar, aber nicht wünschenswert. Da meine zweite Natur die Inszenierung ist, hatte ich umgehend eine Eingebung. Eine soziale Plastik, ein sozioästhetischer Eingriff in die Stadtöffentlichkeit, Kunst am Bau, und zwar an unserem Haus: Zwei Bistrotische vor die Tür, ein paar Stühle, eine Kiste Bier und eine mit Cola als Starthilfe daneben, Wasser trinkt da niemand, eine Sammelbox für Kohle und einen Aufsteller, auf dem sinngemäß steht: „Der Hades hat zu. Wir machen unseren eigenen Hades. Jeder nimmt sich, was er will, jeder zahlt, was er kann und trägt sich in die Liste für das Organisationsteam ein, das saubermacht, die Sachen wegräumt und neu einkauft. Am Wochenende gibt es Kabarett und Performance aus Hannover (meint mich).“
Eigentlich eine von zehn Ideen am Tag, die mir bekifft schon mal durch die Birne vagabundieren und wo ich mir sage, nee, ich nicht mehr, sollen die Anderen mal machen. Aber diese hier materialisiert sich immer mehr. Das Eingreifen, die direkte Aktion habe ich immer für die zentrale politische Kategorie der Selbstorganisation gehalten; der Schreibtisch, die Bücher, Theorie, all das ist nützlich, aber Veränderung findet auf der Straße statt oder gar nicht. Ganz zu schweigen vom Adrenalin, das dabei frei wird.
Wenn der Hades endgültig schließt, mach ich das. Wie ich überhaupt und grundsätzlich dem Hades ein Denkmal setzen muss.
Es ist ja auch eine Frage des Stils: Man überlässt den Arschlöchern nicht kampflos das Feld.