
Fröhlich sieht anders aus. Gestern in der City von Hannover am Stand des jüdischen Jungen Forum.
Es ist eine Sache, in der Zeitung zu lesen: „Juden fühlen sich zunehmend bedroht in Deutschland“, „Widerliche antisemitische Stimmung im Land“ oder „Propalästinensischer Mob mit wachsender Gewaltbereitschaft“. Eine andere ist es, am Stand einer jüdischen Organisation dabei zu sein und Ansätze des Geschilderten direkt mitzuerleben. Zeitungslektüre ist tendenziell Schall und Rauch, verfliegt im Gleichklang der Überschriften, hinterlässt wenig Spuren, verstärkt ohnehin Vorhandenes, Zeitungslektüre häuft eher nutzloses Wissen an, tut aber wenig für Bildung. Mit einem Blick in die Zeitung versperrt man die Aussicht auf die Welt. Mit der Lektüre einer Gazette hat der geneigte Bürger seine Pflicht erfüllt und widmet sich beruhigt seinen Geschäften.
Die Straße dagegen. Ich mache seit Jahrzehnten Straße, mit Aktionen, Performances, Demonstrationen, Infoständen etc. pp. Lieber eine Stunde Straße als 10 Stunden Schreibtisch oder Lehnstuhllektüre. Straße ist politische Bildung und ästhetische Erziehung par excellence, schafft mehr Einsichten in die menschliche Seele als 10 Ratgeber und 4 Semester Psychologie, Straße sorgt für Schärfung der Diskursfähigkeit, der Resilienz und gibt einem eine Konflikthärte mit, die in anderen Zusammenhängen durchaus nützlich ist.
Und die Straße sorgt für unvergessliche Bilder. Ich werden den Anblick des 150 kg Klopses nicht vergessen, der bei einer Straßen-Aktion im Rückwärtsgang in einen Kinderwagen plumpste und da hilflos klemmte, Beine und Arme in die Luft. Mein erster Gedanke, als Verantwortlicher für die Aktion: Mein Leben ist vorbei. Das Kind da drin ist platt wie Brei und ich bin verantwortlich. Mein zweiter: Was für ein Kinderwagen, der das aushält. Im dritten Gedanken flossen Tränen der Erleichterung, als ich das Baby ein paar Meter weiter in den Armen der jungen Mutter krähen hörte. Dutzende Bilder und Geschichten …
Auf der Straße sieht man den Spiegel der Gesellschaft. Mittlerweile erkenne ich bei Aktionen, Infoständen etc. auf 50 Meter, ob der sich Nähernde informationswillig, diskussionsfähig ist, oder einfach nur eine Labertasche, die einen nur zutexten will, gar ein Gestörter oder schlimmstenfalls ein gewaltbereiter Durchgeknallter. Man sieht es am Blick, am Gang, am Habitus.
So viele Gestörte wie gestern am Stand habe ich in so kurzer Zeit noch nie erlebt, unfähig zum Diskurs, sofort laut und aggressiv und bar jeder Empathie: „Israel Völkermord blablabla“ „Waren Sie überhaupt schon mal in Auschwitz blablabla“ … Ein durchgeknallter Finsterling, der mich volltextete, er wäre wichtig und wir sollten nach hinten verschwinden, in die hiesige Marktkirche. Hochaggressive junge Männer mit offensichtlichem Migrationshintergrund … Ich war noch nie so froh wie da über das massive Vorhandensein von Polizei, die ohnehin verstärkt im Stadtbild präsent ist angesichts drohender Ausschreitungen des Pro-Palästinamobs. Sie drängte die gewaltbereiten jungen Männer ab. Ich ertappte mich bei vorzivilisatorischen Gewaltphantasien.
Und letztlich, und bleibend bei der Frage: „Wie halten das die Juden in Deutschland bloß aus?“ Ich konnte da gestern jederzeit vom Stand weggehen und war dann wieder ein normaler Bürger, unbedroht, mit albernen Wehwehchen, dessen maximale Sorge das Gelingen der neuen Quittenmarmelade ist. Die jungen jüdischen Mitbürger nehmen ihre wachsenden Ängste auf jedem Schritt mit, um sich, ihre Familie, ihre Einrichtungen, den Staat Israel mit eventuellen Verwandten da.
Für einen Moment ging es mir wie dem von mir ansonsten nicht gerade geschätzten Verteidigungsminister Pistorius bei einem Israelbesuch im Gespräch mit einem Opfer des Hamasterrors: „Die Geschichte des jungen Manns hat mir die Tränen in die Augen getrieben, nicht nur vor Trauer, sondern vor allem vor Wut«,
Wo bleiben angesichts des Pro-Palästinamobs und der wachsenden antisemitischen Ausschreitungen die massenhaften Reaktionen der Zivilgesellschaft auf der Straße?
Ein erster Schritt findet am 22.10, 14 Uhr, in Berlin am Brandenburger Tor statt, bei einer Kundgebung. Ein derartig breites Bündnisspektrum habe ich noch nie erlebt: Neben den üblichen Verdächtigen von DGB und Wohlfahrt der BDI (Bundesverband der Deutschen Industrie), Seit an Seit mit campact, die CDU/CSU Seit an Seit mit der Linken, natürlich die Deutsch-Israelische Gesellschaft DIG, Seit an Seit mit Alhambra, der Gesellschaft Muslime für ein plurales Europa.
Das ist schon mal ne Ansage.
Jetzt liegt es an jeder Einzelnen. Demokratie entscheidet sich immer auch auf der Straße. Wie viele werden kommen?