Bei aller kritischen Medienperspektive im Rahmen meiner Casting-Interventionen, die ich als Kunstprojekt deklarieren würde im Sinne einer sozialen Plastik : Das Ganze hat einen Riesenspaß gemacht und war ein unbezahlbares Training im Erwerb kommunikativer Kompetenz. Das war die Hohe Schule der Improvisation, vergleichbar nur mit Üben im Ernstfall, nämlich beim Kabarett live auf der Bühne. Getreu dem alten Mucker-Motto: Wer übt, ist feige.
Unser ganzer Alltag, so strukturiert er auch sein mag, ist eine unablässige Folge von Improvisationen, also der permanenten, meist blitzartigen, Entscheidung zwischen mehreren Varianten die Bestmögliche zu wählen. In einem Vorstellungsgespräch, beim Smalltalk, beim Flirten, einer Podiumsdiskussion, beim Bestattungsunternehmer, überall müssen Sie meist in Lichtgeschwindigkeit einen oder mehrere Schalter umlegen können. Und das sind nur reine Gesprächssituationen. Wenn wir das ganze nonverbale Gedöns mit einbeziehen, wird’s unendlich. Und Improvisation wirft einen ungefilterten Blick in das Innere. Erkenne Dich selbst durch Improvisation …
Bei „Bauer sucht Frau“ war ich auf meinem Zenit. Und antwortete auf die Frage, wie ich mich selbst beschreiben würde, wie folgt ….
Unveröffentlichtes Manuskript, Kapitel 4 „Bauer sucht Frau“. Auszug, Teil 4 :
Ich hatte Oberwasser, war mit mir im Reinen und fand es an der Zeit, noch mehr meiner positiven Eigenschaften ins rechte (demnächst Scheinwerfer-?) Licht zu rücken:
„Ich bin jedenfalls keiner dieser normal maulfaulen Eichsfelder, die schon erschöpft sind, wenn sie „Guten Morgen“ gewünscht haben. Ich unterhalte mich gerne und interessiere mich für Kultur.“ Fehlte nur noch eins:
„Was ist Ihr Lieblingsgericht?“
Endlich mal in die Nähe der Wahrheit ….:
„Kohlrouladen. Mit Schokoladenpudding hinterher.“
Da war aber noch was:
“Womit könnte Sie Ihre zukünftige Bäuerin überraschen“?
Souverän spielte ich die Kulturkarte aus:
„Mit einer Eintrittskarte für das Stadttheater Göttingen, wenn Christine Neubauer da auftritt.“
Schon wieder die Doppel-D-Diva …
Göttingen ist die größte Stadt in Eichsfeldnähe und hat tatsächlich ein Theater, wie ich im Nachhinein feststellte. Oh glückliches Deutschland, das Du Deine Regionen noch so üppig mit subventionierten Kultureinrichtungen versorgst! Da erbleicht der Angelsachse vor Neid.
Abschlussfragen, was ich denn am bäuerlichen Dasein so schätzte, meisterte ich ebenso souverän wie die, welche Arbeit ich denn nicht mögen würde. Ich spendierte mir flugs einen Wald und daher:
„Holz fällen. Das ist mir zu gefährlich, da braucht man Erfahrung. Wenn da mal ein Ast auf Spannung steht und falsch angesägt wird, dann ‚Gute Nacht, Christine’.“
Wir näherten uns dem Ende, nie hatte mich ein Auftritt oder Casting mehr gefordert:
„Wie sind Sie denn bei der Suche nach einer Frau auf ‚Bauer sucht Frau’ gekommen?“
Mittlerweile hatte die gespielte Rolle mein wahres Ich geentert, ich war eins mit dem Bauern in mir und ehrlich erstaunt:
„Aber das ist doch ein gängiges Verfahren.“
Danach ging es überwiegend ums Procedere, ich müsste einverstanden sein, dass ein Kamerateam uns zehn bis zwölf Tage begleiten würde und bis Drehbeginn Stillschweigen bewahren.
Eine Frage wurde allerdings ausführlicher als alle anderen diskutiert und kam offensichtlich nicht unabsichtlich zum Schluss:
„Wie sehr sind Sie von der Meinung anderer abhängig?“
Mir war klar, worauf das zielte: In diesen Doku Soaps und Casting-Shows werden Menschen vorgeführt, mitunter vor Millionenpublikum zum Narren gemacht und gedemütigt.
„Wie sehr sind Sie von der Meinung anderer abhängig?“
bedeutet: Mach Dir klar, dass das Leben nach Deinem Fernsehauftritt weitergeht, dass Du auch zukünftig in Deinem Dorf leben musst, dass Du Dich vor Millionen zum Deppen machen und von Deinem sozialen Umfeld mit Häme und Spott überzogen werden kannst und als Konsequenz behandlungsbedürftige psychische Probleme kriegst, wie es bei „Bauer sucht Frau“ schon passiert ist. Dieser Teil des Telefoncastings war wie eine Aktennotiz, die man im Geschäftsleben anfertigt, um im Pannenfall später dokumentieren zu können:
„Der Proband wurde auf die Folgen seines Handelns hingewiesen.“
Die Macht der Bilder ist natürlich größer als gesprächsbasierte Aktennotizen. Mir ist es ja auch egal, ob ich mich im TV zum Affen mache, obwohl ich das Prinzip der Verblödungsindustrie kritisch-intellektuell bis in die letzten Wirkmechanismen so durchdrungen habe, dass es anno 68 bei Adorno für eine Doktorarbeit gelangt hätte.
Eine Woche nach dem Telefoncasting hatte ich einen Anruf der DEF Media auf meinem Anrufbeantworter, in dem um Rückruf in Sachen Termin für ein Kameracasting auf meinem Hof gebeten wurde.
Ich zog die Reißleine und sagte höflich per E-Mail ab, ich hätte auf natürlichem Wege die Bäuerin meines Herzens gefunden.
Ich hatte noch viel Arbeit vor mir. Auf mich warteten „Tine Wittler – Einsatz in vier Wänden“, „Peter Zwegat – Raus aus den Schulden“, „Vera Int-Veen – Verzeih mir“ und „Helena Fürst – Anwältin der Armen“.
Und das „Perfekte Dinner ….“
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