27.03.2024 – Drei Sterne Armut

Komplett*innenausbau muss es korrekt heißen.

Gestern wurden, von allen Bonvivants sehnsüchtig erwartet, die neuen Sterne des Guide Michelin veröffentlicht.  Über Berlin, früher eine gaumenbeleidigende Fressdiaspora Semmelverbröselter Bulletten und sowohl Verdauungs- als auch Ekelpickel erzeugender Schmalzstullen, prangt seit einigen Gentrifizierungsjahren ein strahlender Sternehimmel. 21 Restaurants mit einem oder mehr Sternen. Aktueller Neuzugang ist das Hallmann und Klee in Neukölln, einen Steinwurf vom Paralleluniversum der Sonnenallee entfernt, auch arabische Straße genannt. Was für ein zynischer Komiker diesen locus horribilis, dieses düstere Epizentrum des antisemitischen Schreckens, Sonnenallee genannt hat, entzieht sich meiner Kenntnis.

Hallmann und Klee und die Sonnenallee sind Universen ohne Verbindung. Noch kostet ein Menü im H und K ohne Weinbegleitung pro Person bescheidene 98 Euro. Das wird sich nach dem Stern deutlich verteuern. Viel wird dann für einen Zweipersonen-Abend mit Champagner am aktuellen Bürgergeldsatz von 563 Euro nicht fehlen.

Aber Krise allerorten, so auch am Sternehimmel. Im legendären Kreuzberger Nobelhart und Schmutzig gibt es ab 1. April ein Billighappe-Menü für schlappe 115 Euro statt bisher in der Spitze 225 Euro. Argument: „Wir verändern die Komplexität unserer Speisefolge“

Heißt übersetzt: Wenn wir nicht billiger werden, gehen wir Pleite. Krise überall, nach Corona, Inflation, Klima, Kriege und Rezession jetzt auch am Sternehimmel. Armes Deutschland. Apropos: Gestern wurden fast zeitgleich mit den Sternen die aktuellen Armutszahlen veröffentlicht. Selbst das Zentralorgan für Niedertracht und Schmutzig, die Bild, zitierte mich mit den Worten: Unsere Gesellschaft spaltet sich faktisch immer mehr, soziale Gerechtigkeit wird immer weniger, und das bedroht unsere Demokratie.“ Wenn sogar die sowas bringen, muss es schlimmer sein, als selbst ich dachte.

Dass die Demokratie den Ast, an den sie sich noch mühsam klammert, gerade absägt, ist so offensichtlich wie die legendäre Kloßbrühe, die es bei Hallmann und Klee a la carte für 24 Euro gibt. Glauben die Demokraten im Ernst, man könne immer mehr Millionen in Elend verfrachten und behandeln wie Unrat, ohne dass das Konsequenzen hat. Zurzeit sind offiziell über 14 Millionen in Armut, rechnen wir die Niedriglöhnerinnen und Prekären dazu, die knapp über der Armutsgrenze liegen, die, die in der Statistik nicht erfasst sind, und jene durchschnittlich Verdienenden, die die explodierenden Mieten nicht mehr bezahlen können und die am Horizont von Rezession und Entlassung bedroht sind, dann können Sie davon ausgehen, dass den Glücklichen ca. 10 Millionen, die sich regelmäßig das Hallmann und Klee leisten könnten, ungefähr 50 Millionen gegenüber stehen, die keinen Pfennig zurücklegen können und denen die Wut, der Hass immer höher steigen. Nicht bei allen, nicht andauernd und nicht rasant. Aber kontinuierlich.

Dat könne mer uns als Dampfkochtopf ohne Sicherheitsventil vorstellen. Irjendwann macht et Bumm.

Am Böhmischen Platz, wo Hallmann und Klee sind und im Sommer ein ganz zauberhafter locus amoenus voller Leben, habe ich mal ein charmantes Nachbarschaftsfest erlebt, eine Kapelle intonierte Tanzbares, auf einer kleinen Leinwand wurden revolutionäre Filme gezeigt, es gab jede Menge vegan-selbstgebackene Scheußlichkeiten, Flugis, Transpis, gegen Gentrifizierung und Viva la revolución. Wir saßen auf der Bordsteinkante und tranken Bier aus Flaschen. Die Luft war sommermilde. Es war eine jener Nächte, von denen man hofft, sie mögen nie zu Ende gehen.

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