Neulich in der Berliner S 2, nach Yorckstr.
Im Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland wurde in der ursprünglichen Fassung von 1949 der Begriff „Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse“ verwendet. Seit der Verfassungsreform von 1994 wird im Zusammenhang mit der deutschen Einheit von der „Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse“ gesprochen. Sie herzustellen ist Ziel staatlichen Handelns.
Die deutsche Einheit ist gescheitert. Was ich in meinem Blog seit bald Jahrzehnten mit dem halbsatirischen Begriff der „Annexion der Ostzone“ frame, nämlich das Scheitern der Einheit a priori und per Ideologie, hat spätestens nach der Wahl am Wochenende auch der dümmste Schrat im Feuilleton begriffen und pfeift es von allen Verlagsdächern. Der BRD geht es wie Italien, wo seit Staatsgründung im 19. Jahrhundert von einheitlichen Lebensverhältnissen, einer Einheit der Nation höchstens im Fußball und in Ansätzen in der Sprache die Rede sein kann. Die im Norden wollen die „Afrikaner“ im Süden, ab Neapel, lieber Heute als Morgen loswerden, siehe Lega Norte. Sie bezeichnen sie als Erdfresser, Terrone, die nur Geld kosten und alle kriminell sind. Bewohner*innen kalabrischer Bergdörfer trennen Welten von den eleganten urbanen Metropoleninsassen in Mailand oder Turin. Der Norden Italiens ist einen der reichsten Regionen der EU, während der Markt in Palermo völlig zu Recht afrikanisch genannt wird. Die Ostzone ist der Mezzogiorno Deutschlands. Mit dem Unterschied, dass man auf Sizilien selbst im Winter noch im Meer schwimmen kann und in besagten kalabrischen Bergdörfern da auf der Piazza im Jänner abends draußen im Hemd einen Roten verklappen kann. Wenn da überhaupt noch jemand wohnt.
Gleichwertige Lebensverhältnisse gibt es innerhalb einer Nation unter kapitalistischen Vorzeichen nicht, kann es nicht geben. Wer deren Herstellung als Plan oder Ziel vorgibt, lügt oder ist dumm. Daseinszweck und Grundbedingung des Kapitalismus ist der Reichtum der Wenigen und die Ausbeutung und Verelendung der Vielen. Das hat Jahrzehntelang global im Rahmen von Arbeitsteilung funktioniert, die wenigen im Norden, also „wir“ schwelgten im Reichtum, die Vielen im globalen Süden durften Erde fressen. Da wir jetzt die Proleten im eigenen Land zwecks Herrschaftsstabilisierung nicht mehr brauchen, widerfährt ihnen mehr und mehr das Schicksal der Vielen aus dem Süden. Wer’s nicht glaubt, kann sich gerne mal eine halbe Stunde neben einen Abfalleimer im Berliner Hauptbahnhof oder in Mitte stellen und den steten Strom der Mülldurchsuchenden begutachten, in der Mehrzahl normal gekleidet, wie aus der Mitte der Gesellschaft.
Die Insassen der Ostzone spüren diesen Prozess hierzulande flächendeckend als Erste am eigenen Leibe, was umso fieser ist, als ihnen jahrzehntelang das Gegenteil mit pseudoblühenden Landschaften vorgelogen wurde. Enttäuschte Hoffnung macht Wut. Also wählen sie Faschismus. Wer die Spaltung der Gesellschaft nicht bekämpft, verliert den Kampf um die Demokratie.
Von 1949 bis 89 verließen ca. 2,5 Mio. Menschen die Ostzone, jung, gut ausgebildet, kritisch, kreativ. Der Staat wehrte sich gegen diesen Existenzbedrohenden Aderlass mit dem Bau einer Mauer. Irgendwie fies, aber aus systemtheoretischen Strukturgründen logisch. Hat aber nix genutzt.
Von 1990 bis Heute verließen das Gebiet der ehemaligen Ostzone ca. 2,5 Mio. Menschen, jung, gut ausgebildet, kritisch, kreativ.
Jedes System scheitert irgendwann an sich selbst, je nach System unterschiedlich, aber mitunter im Scheitern geeint.