Theke, Gulaschsuppe, Bier und Korn.
Ich bin sowohl mit Menschen befreundet, die arm sind als auch mit solchen, die Millionäre sind. So selten sind beide Gruppen in Deutschland nicht. Gut ein Fünftel der Bevölkerung Deutschlands ist von Armut oder sozialer Ausgrenzung bedroht. Über 17 Millionen. Millionäre gibt es ca. 1,7 Millionen . Jeder 50. ist in Deutschland Millionär.
Hinwiederum kenne ich niemanden, der AfD wählt. Ich kenne Konservative, Reaktionäre, Coronaschwurblerinnen, aber keine AfD-Wähler. Wir leben alle in Blasen (Phrasenschwein 5 Euro, wobei das dadurch neugeschaffene Wort Blasenphrasen – oder auch Phrasenblasen – so schön ist, dass sich der Blasenphrasenausflug nur für dessen Entdeckung gelohnt hat).
Die Theke einer stinknormalen Kneipe in Deutschland, jenseits von Szenebars, Bistros, alternativen Saufstuben, ist eine Möglichkeit für ein, zwei Biere, eine Gulaschsuppe und ein, zwei Korn aus der eigenen Blase herauszukommen für ein paar Momente. Ob jemand arm ist, Millionär, AfD-Wähler (ungegendert, an Theken sitzen meistens Männer, was diesen Ort per se zu einem der trostlosesten der Welt macht), ist an einer Theke erstmal ungeklärt, und auch egal. Das unterscheidet die Theke als sozialer Ort vom Stammtisch in derselben Kneipe. Wenn es denn überhaupt noch welche gibt. Was sowohl für die „normale“ Kneipe als auch für den Stammtisch gilt, dessen Revier früher oft mit furchterregenden gusseisern-verschnörkelten Tisch-Schildern gegen Fremde abgegrenzt wurde, auf denen Drohsprüche standen wie: „Hier sitzen die, die immer hier sind“.
Der Stammtisch ist, anders als die Theke, gekennzeichnet durch sozialökonomische Homogenität: Männer, weiß, älter, ähnliche Einkommen, Sprache, Habitus, verheiratet, 1,5 Kinder, Golffahrer, politische Einstellungen (SPD-Ortsverein), die je furchterregender zum Ausdruck kommen, desto später die Stunde und höher der Alkoholpegel ist. Der Stammtisch ist ein geschützter Ort, an dem schnell die Sau rausgelassen wird, das unterscheidet ihn von der Theke, wo auf Grund der größeren Zufälligkeit der Zusammensetzung eine gewisse Vorsicht obwaltet, zumindest bis zum vierten Bier. (Oft kennen sich die Thekeninsassen auch untereinander, da sind dann die Grenzen zum Stammtisch fließend.)
Politiker*innen, zumal berufsmäßige, Abgeordnete, Referentinnen, etc., leben nach meiner Erfahrung in den hermetischsten Blasen, die es gibt, vergleichbar höchsten mit Millionären in Gated Communities. Den ganzen Tag in Sitzungen, Ausschüssen, Fachgruppen, Plena, abends in Ortsvereinen, bei Podiumsdiskussionen, Fachtagen etc. es herrscht überall die gleiche Sprache, das gleiche Setting, die gleiche Mainstream Sicht auf die Welt etc. pp. Gucken Sie sich mal die Gruppenfotos der jeweiligen Landtagsfraktionen an: Die sehen alle aus wie aus dem gleichen Ei.
Natürlich gibt es da gewaltige Unterschiede, das sind nicht nur zynische Machtwesen, es gibt wirklich nette, zugewandte, empathische, solidarische darunter, die am Status quo leiden. Ihn aber durch ihre Anwesenheit und Existenz ins Unendliche verlängern. Unter anderem deshalb ist die Alkoholiker-Quote da überdurchschnittlich hoch.
Da wir also immer weniger voneinander wissen, aus eigener Anschauung, Nähe, Erfahrung, gerät uns die Welt zu einem Abstraktum, einem fernen Ort. Kaum eine Politikerin kann sich vorstellen, besser: nachfühlen, welche Existenzängste Arme schon am 20. jeden Monats haben, wenn das Geld für Essen nicht mehr reicht. Diese Angst, die Wut daraus, macht es fast zwangsläufig, dass immer mehr prekäre Existenzen sich von der Demokratie abwenden und AfD wählen, als radikale Erlösungshoffnung aus ihrem Elend. Die AfD erzielt durchgängig ihre höchsten Wahlquoten in sozialen Brennpunkten.
Um diesem demokratiebedrohenden Mangel an sozialer Erfahrung abzuhelfen, müsste es verpflichtend für Politiker sein, einmal im Monat an einer Theke zu sitzen. Nicht am Stammtisch, die Aufnahmerituale für sowas sind ähnlich undurchschaubar wie die für eine Freimaurerloge und am Stammtisch kehrt auch zu viel Unrat nach oben. Die Theke ist da ein validerer Ort für die Lage in Deutschland. Natürlich müssten Politiker auch verpflichtet werden, in Obdachlosenunterkünften zu übernachten, in Flüchtlingsheimen zu wohnen und in der Ostzone in einer national befreiten Zone mit einem Antifa-T-Shirt rumzulaufen oder, die Krönungsmesse: Mit einer Kippa durch Neukölln. Aber wir fangen mal mit dem Grundkurs an….
Bei meinem letzten Ausflug an die Theke kam das Thema „Wohnen“ auf. Mein Nachbar, Bratkartoffeln mit Sülze, ohne großen Hass auf „die da oben“ (noch nicht?), aber durchaus grimmig und griffig: „Ich musste im letzten Jahr für Wohnen über 2.000 Euro mehr bezahlen, normale Mietererhöhung, Umlage energetische Sanierung, Stadtwerke.“
Rechnen Sie da mal noch die nach wie vor hohen Inflationsraten für Nahrungsmittel rein, können Sie mal davon ausgehen, dass bei solchen Entwicklungen selbst für einen Angehörigen der Mittelschicht am Ende des Monats Frust aufkommt. Schon gar, wenn er oder sie bei VW arbeitet, Bosch, Thyssen-Krupp etc. Da steht das Gespenst Massenarbeitslosigkeit auf einmal an der Theke. Der Durchschnittsdeutsche gibt für seinen Haupturlaub 1.500 Euro aus. Wenn des Deutschen liebstes Kind, der Malle-Urlaub, durch diese Entwicklungen bedroht wird, dann gute Nacht, Marie. Und deutscher Michel.
Prost.
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